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Extrem symbiotisches Verhältnis mit dem Manuskript. Der Schriftsteller Lutz Seiler.

©  Jürgen Bauer

ZUR PERSON: „Der Anfang war ein Scheitern“

Für „Kruso“ erhielt er im Herbst den Deutschen Buchpreis. Seitdem ist vieles anders: Lutz Seiler über ausverkaufte Lesungen, das Glück des Scheiterns und neue Pläne

Herr Seiler, wie würden Sie das Jahr 2014 im Rückblick bezeichnen?

Es war ein sehr gutes Jahr, weil das Buch, das ich geschrieben habe, Erfolg hatte. Wahrscheinlich ist es für jeden Autor das Allerschönste, wenn es viele Leser gibt. Der Buchpreis hat bewirkt, dass es dann noch mehr Leser gab, als ich mir hätte erhoffen dürfen. „Kruso“ war ja bereits sehr gut aufgenommen worden und stand schon vor dem Preis auf der „Spiegel“-Bestsellerliste. Aber nach der Preisverleihung in Frankfurt wurde das alles noch übertroffen. Und dann war man halt unterwegs. Im Grunde bin ich seit der Buchmesse im Oktober den ganzen Herbst auf Lesereise gewesen.

Wie haben Sie diese Lesungen erlebt? „Kruso“ spielt ja in den letzten Monaten der DDR. Waren Unterschiede zwischen Ost und West spürbar?

Erstaunlicherweise nicht. Die Reaktionen auf die Stellen, die ich gelesen habe, waren im Osten wie im Westen ganz ähnlich, obwohl man schon vermuten durfte, dass ein Publikum aus dem Osten vielleicht noch ein paar andere Sachen mithört. Aber das war nicht entscheidend. Die Lesungen waren überall extrem gut besucht. In der Regel wurde umgezogen in den größten Saal im Ort, und der war immer ausverkauft. Den Besucherrekord gab es dann tatsächlich im Osten, in Rostock. Da habe ich im Audimax der Universität vor 500 Leuten gelesen.

Was ist das für ein Gefühl, vor so vielen Leuten zu lesen? Das ist für Sie ja eine neue Dimension.

Ja, das ist es ohne Zweifel. Und es ist schon ein bisschen surreal. Aber man gibt sein Bestes. Man versucht, eine gute Lesung oder ein gutes Gespräch oder einfach einen guten Auftritt hinzubekommen. Ich glaube, das hat eigentlich überall ganz gut geklappt. An der eigentlichen Sache ändert sich ja nichts, nur weil da mehr Leute sitzen. Natürlich gibt es in dieser Größenordnung kein Gespräch mit dem Publikum, es fehlt der direkte Kontakt zu den Leuten und so kann man sich auch nie sicher sein, ob das jetzt alles wirklich gut läuft und auch so ankommt.

Gab es Momente, in denen Sie manchmal dasaßen und sich fragten, was Ihnen da überhaupt gelungen beziehungsweise widerfahren ist?

Über den Jahreswechsel waren wir an der Ostsee, für diese Tage hatte ich mir vorgenommen „Kruso“ zu lesen. Weil ich tatsächlich dachte, ich muss jetzt noch einmal nachlesen, was dort geschrieben steht, was das überhaupt ist. Dieses Stutzen und dann noch einmal wissen wollen, was man eigentlich gemacht hat, das gab es schon. Vorher hatte ich dafür noch gar keine Zeit. Während der Arbeit bin ich extrem symbiotisch mit dem Manuskript. Aber sobald ich es aus der Hand gebe, löst es sich ganz schnell von mir ab. Es entfernt sich dann so rasch und rigide, dass ich später das Bedürfnis habe, nachzuschauen, nachzulesen.

Sind Sie in den vergangenen Wochen bei den zahlreichen Lesungen vielleicht mal an den Punkt gekommen, dass Ihnen „Kruso“ auch überdrüssig wurde?

Ich hatte schon von Kollegen gehört, dass es solche Empfindungen geben kann. Zum Beispiel, dass man nach dem 30. oder 50. Mal seine eigene Stimme nicht mehr hören kann während der Lesung. Mir ging das nicht so, ich hatte nicht dieses Befremden. Natürlich entwickeln sich Automatismen. Oft liest man dieselben Stellen und kennt sie beinah auswendig. Durch diese Art der Wiederholung ist es manchmal so, als würde man sich von außen sehen. Aber ich hab nie Überdruss empfunden, und ich war eigentlich vor jeder Lesung neu aufgeregt. Zu jeder Lesung kommen Leute, die das, was ich mache, zum ersten Mal hören. Sie sind gekommen, weil es sie interessiert. Das ist das Beste, was einem Autor passieren kann, also hat jeder von ihnen die gleiche Anstrengung verdient.

„Kruso“ ist nach mehreren Gedicht-, Essay- und Erzählbänden Ihr Debütroman. Wie verliefen Ihre Anfänge als Romanautor?

Der Anfang war ein Scheitern. Fast ein Jahr lang kniete ich auf einem anderen Roman, ich habe sehr viel recherchiert und vorgearbeitet, Dramaturgien entworfen, Dossiers über die Figuren angelegt und mir Handlungen ausgedacht. Dann ging es nach Rom in die Villa Massimo, wo ich in diesem riesigen Atelier in einer Ecke saß und von Rom nichts sehen, nur schreiben wollte. Irgendwann musste ich einsehen, dass es nicht klappt. Es wollte sich einfach nicht fügen.

Und dann haben Sie mit „Kruso“ begonnen?

Nein, ich habe es aufgeben, das heißt, ich habe das Romanschreiben überhaupt aufgegeben, ich hatte es ausgiebig versucht, damit war es genug. Ich dachte, jetzt kann ich zurückkehren in den Heimathafen der Gedichte. Danach bin ich auch endlich aus unserem Atelier rausgekommen und war mit meiner Familie in Rom unterwegs. Irgendwann sagte meine Frau, ich solle doch wenigstens zehn Seiten schreiben über diese Hiddensee-Geschichte, die mir immer so gut gefallen hat. Die war als ein winziges Rückblickkapitel in dem gescheiterten Romanprojekt vorgesehen. Daraus sind dann die 500 Seiten „Kruso“ geworden.

Was war anders?

Ich hatte sofort ein paar Bilder, denen ich absolut vertrauen konnte, die wie Portale waren, durch die ich in die Geschichte hineingehen konnte. Nach und nach bekam ich eine Vorstellung von der Atmosphäre, dem Erzählton, von Figuren, einer möglichen Handlung. Das alles hatte etwas Organisches. Ich habe dabei gelernt, dass es keine Phrase ist, wenn gesagt wird, dass man diese Bereitschaft zum Scheitern bei großen Projekten mitbringen muss. Ich hatte das vermeiden, geradezu ausschließen wollen, wahrscheinlich war das der direkte Weg zum Scheitern. Im Mai 2011 habe ich dann mit dem Hiddensee-Stoff begonnen und Ende Februar 2014 das Manuskript abgegeben. Davon abgesehen gibt es vieles, das sich über Jahre vorbereitet. Man greift auf Notizbücher zurück, hat bestimmte Passagen schon einmal entworfen, aber in anderen Zusammenhängen – das alles fügt sich ein. Noch in Rom hatte ich begonnen, mich hineingeschrieben in den Stoff und im Jahr 2012 dann eine Rohfassung hergestellt. Ich wusste damals ja nicht wirklich, wie das geht, einen Roman zu schreiben. In Rom habe ich mich ein wenig mit Friedrich Christian Delius angefreundet und dann etwas getan, was ich bis dahin noch nie gemacht hatte: Ich habe einen Schriftsteller um Rat gefragt. Wir hatten ein gutes Gespräch. Delius hat mir erklärt, wie er es macht. Zuerst einen Tunnel durch den Berg, das heißt durch das Material. Das ist die Rohfassung. Man schaut, ob man irgendwann Licht sieht am anderen Ende, ob das Ganze als Roman funktioniert. Diese absolute Rohfassung ist Grundlage für alle Überarbeitungen, bei denen der eigentliche Text erst entsteht.

Gab es im Prozess des Schreibens Momente, in denen Sie gespürt haben, dass „Kruso“ ein besonderes Buch werden würde?

Das geht während des Schreibens extrem hin und her. Es gibt Momente, in denen man so vor sich hinjuchzen möchte, weil man glaubt, dass gerade etwas gelingt und richtig gut wird. Aber genauso gibt es die Phasen des Zweifelns, auch des extremen Zweifelns. Und die sind eigentlich ausgeprägter und bleiben bis zum Schluss. Ich glaube, dieser Zweifel am Manuskript ist die wichtigste Antriebskraft, weil man nur so bereit ist, seinen Text endlos zu überarbeiten und zu verbessern. Diese Skepsis dem Eigenen gegenüber ist die Arbeitsgrundlage.

In „Kruso“ verarbeiten Sie auch die eigene Geschichte. Wie war für Sie diese intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit?

In den Gesprächen mit den ehemaligen Kollegen aus dem „Klausner“ habe ich gemerkt, wie viel ich doch vergessen hatte. Wahnsinn, woran die sich noch erinnerten, an welche Details, das war sehr wertvoll für den Text. Dadurch öffneten sich wieder neue Türen in Räume der Erinnerung. Aber es ist ja auch nicht die eigene Geschichte, die da erzählt wird. Sicher, ich brauche diese authentischen Ausgangspunkte, also Sachen, die ich wirklich gesehen, wirklich erlebt habe. Aber sobald man schreibt, regiert das Kriterium der Literatur. Man fängt sofort damit an, Dinge zu verändern, zu erfinden, umzuformulieren. Nur, was für den Text brauchbar ist, wird aufgenommen, man marschiert über das Erfinden bis ins Fantastische hinein, bis dahin, dass ein toter Fuchs zu sprechen beginnt zum Beispiel, aber all das erscheint einem dann nicht weniger wahr als das sogenannte Selbsterlebte.

Gab es auch Reaktionen von der Insel Hiddensee, dem „Klausner“, auf Ihren Roman?

Ich habe im Hauptmannhaus gelesen, was sehr schön war, und überhaupt ist das Buch auf der Insel sehr gut aufgenommen worden. Der „Klausner“ möchte am Eingang ein Schild anbringen, mit dem darauf verwiesen wird, dass diese Gaststätte der Handlungsort des Romans „Kruso“ ist. Es gibt schon einen Entwurf dazu, vielleicht ist das Schild auch schon fertig. Und der Roman wird jetzt auch über den Tresen verkauft – eine absolut fantastische Vorstellung, dass das Buch jetzt dort steht, an dem Ort, wo es handelt.

Wie geht es jetzt weiter mit dem Schreiben nach solch einem Erfolg?

Bis Ende Juni habe ich noch relativ viele Lesungen und bin unterwegs. Solange denke ich nicht an andere Texte. Dann kehre ich in die Schreibhöhle zurück. Ich hätte schon Lust auf einen weiteren Roman. Am Anfang des Epilogs in „Kruso“ gibt es diese unklare Stelle, bei der von Krusos Tod im Jahr 1993 gesprochen wird, aber man erfährt nichts darüber, auch nichts über die Jahre zuvor seit dem Mauerfall. Das ist die Lücke, die Handlungszeit für das nächste Buch, das dann also an „Kruso“ anschließen würde. Es wäre genau das Buch, das ich zuerst hatte schreiben wollen, an dem ich aber gescheitert bin. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich es jetzt, mit dem „Kruso“-Wind im Rücken, hinbekommen könnte.

Das Gespräch führte Dirk Becker.

Lutz Seiler liest aus „Kruso“ am Montag, dem 19. Januar, um 19.30 Uhr im Steakhaus „Asados“ in Langerwisch, Straße des Friedens 78. Die Lesung ist ausverkauft

Der Schriftsteller Lutz Seiler wurde 1963 in Gera/Thüringen geboren.

Nach einer Lehre als Baufacharbeiter arbeitete er als Zimmermann und Maurer. 1990 schloss er ein Studium der Germanistik in Halle und Berlin ab. Von 1993 bis 1998 gab Lutz Seiler die Literaturzeitschrift „Moosbrand“ heraus. Seit 1997 leitet er das Literaturprogramm im Peter-Huchel-Haus in Wilhelmshorst.

Seiler ist einer der herausragendsten Lyriker im Land. Für seine Erzählung „Turksib“ erhielt er 2007 den Ingeborg-Bachmann-Preis, sein Erzählband „Die Zeitwaage“ war 2010 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Für sein im September 2014 erschienenes Romandebüt „Kruso“ wurde er mit dem Deutschen Buchpreis und dem Uwe-Johnson-Preis ausgezeichnet.

Lutz Seiler lebt mit seiner Familie in Wilhelmshorst und in Stockholm.

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