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Der ukrainische Theaterregisseur Andriy May ist vier Monate lang Artist in Residence am Hans Otto Theater in Potsdam.

© Andreas Klaer

Andriy May über sein Theaterprojekt in Potsdam: „Die ukrainische Jugend ist die Zukunft Europas“

Aus Cherson floh Regisseur Andriy May nach Deutschland. In Potsdam hat er ukrainische Jugendliche für ein Theaterprojekt über die Zukunft befragt.

Am Tag 217 nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine sitzt der Regisseur Andriy May in einem Versammlungsraum des Hans Otto Theaters und spricht über die Zukunft. Draußen Idylle: ein langsam gülden werdender Herbst, der Blick geht über den Tiefen See. Drinnen ein freundlicher, müder, gehetzter Mann. Ein Mann an der Front. Einer, der zwar keine Waffe trägt, aber über sich selbst sagt: „Natürlich bin ich auch ein Kämpfer in diesem Krieg.“

Andriy May ist Theaterregisseur, Festivalleiter, Hochschuldozent. Geboren wurde er 1976 in Cherson, jener Seehafenstadt nördlich der Krim, in der schon Ende Februar russische Truppen einmarschierten. Die infolge manipulierter Referenden gerade von Putin zum „unabhängigen Gebiet“ erklärt wurde. „Ich wäre sehr gerne jetzt dort“, sagt May. „Wenn ich könnte, würde ich auch an der Waffe kämpfen.“ Zwei sehr konkrete Gründe sprechen dagegen. Der eine ist acht Jahre alt, der andere 65. Der Sohn und die kranke Mutter leben mit Andriy May in Deutschland. Für beide trägt er die Verantwortung. Allein. Die Mutter seines Sohnes starb vor zwei Jahren.

Ein Feuerwerk, das zur Explosion wird

Die letzte Inszenierung von Andriy May, die in der Ukraine Premiere feierte, hieß „Sechseinhalb“, Premiere war im Oktober 2021. Seit sechseinhalb Jahren befand sich die Ukraine damals bereits im Krieg: So lange war es her, dass Russland die Krim annektiert hatte. May bezog damals schon deutlich Position. Über die Maidan-Proteste machte er 2014 ein Theaterstück. Der Anlass für „Sechseinhalb“ war die 30jährige Unabhängigkeit der Ukraine, aber May wollte keine Jubelveranstaltung. Am Ende gibt es ein Feuerwerk auf der Bühne, erzählt er, im gloriosen Zentrum: die Zahl 30. Und ganz am Ende wird das Feuerwerk zur Explosion.

Vier Monate später waren die Explosionen Realität. Drei Tage lang saß Andriy May in einem Bunker unter dem Theater fest, bevor er Cherson in Richtung Deutschland verließ. Drei Tage, in denen er nicht wusste, wann der nächste Luftangriff kommen, ob er seinen Sohn wiedersehen würde. „Damals habe ich begonnen, kurzfristig zu denken“, sagt er. Keine großen Pläne machen, immer nur von jetzt auf gleich. Zukunft ist etwas geworden, dem man sich nur in kleinen Schritten nähern kann. Ein Rhythmus, den May auch beibehalten hat, als er schon monatelang in Deutschland war. Er macht nur das, was er für wirklich wichtig hält. Essen für den Sohn, Hilfe für die kranke Mutter.

Und künstlerisch nur das, was wirklich zählt. Für Kompromisse, für Grauzonen, ist da keine Zeit. Geduld für Ukrainer:innen, die auch im deutschen Exil eine Nähe zu Russland behalten wollen, hat er nicht. Das war einer der Gründe, warum eine Dozenturvereinbarung mit der Filmuniversität Babelsberg aufgelöst wurde, offiziell ist von „künstlerisch-pädagogischen Unstimmigkeiten“ die Rede.

Potsdamer Residenzprogramm mit ukrainischen Jugendlichen

Die Babelsberger Institution hat seit Februar 15 Gaststudierende aus der Ukraine aufgenommen. Dass es ausgerechnet jemand aus diesem Kreis war, mit dem May sich überworfen hat, verletzt ihn, an seiner Position zweifeln lässt es ihn nicht. Warum man im Jahr 2022 an einem deutschen Stadttheater den Stalin-Liebling Maxim Gorki inszenieren muss, ist ihm völlig unverständlich. Für May ist es, „als würde man ,Mein Kampf’ auf die Bühne bringen“, sagt er.

Zum Spielzeitauftakt am Hans Otto Theater („Kinder der Sonne“) ging er daher nicht. Seit Anfang Juli ist er hier im Rahmen eines Residenzprogramms zu Gast. Er arbeitet mit jugendlichen Geflüchteten aus der Ukraine. Mit den 13- bis 18-Jährigen ging er ins Museum, drehte Filme im Park Sanssouci und träumte gemeinsam im Schloss Cecilienhof, wo nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Welt neu geordnet wurde, dass hier verkündet würde: „Putin kaputt“. Der Rote Stern, eine gewaltige Blumenrabatte auf dem Museumsgelände, holte sie in die Gegenwart zurück.

 Wir brauchen Stücke über Butscha. Erst dann können wir anfangen, das hinter uns zu lassen.

Der ukrainische Regisseur Andriy May

Andriy May hat mit den Jugendlichen auch an einem Dokumentartheaterstück gearbeitet. Am 1. Oktober wurde es gezeigt, nur ein einziges Mal. Das Projekt ist der Grund, warum dieser Mann, der sich das An-die-Ferne-Denken abgewöhnen musste, am 217. Tag des russischen Angriffskrieges in Potsdams Stadttheater über Zukunft spricht. Sie ist das Thema des Abends. „Meine Zukunft nach dem Krieg“, heißt er. Der Titel selbst, ein Hoffnungsträger. Auch wenn es in diesem von russischer Mobilmachung geprägten Herbst ferner scheint denn je: Es wird eine Zukunft nach dem Krieg geben.

„Wir müssen vorbereitet sein“

Schon in einem früheren Projekt („The Future of Europe“) hat May mit Jugendlichen gearbeitet, er reiste damit durch zwanzig Städte. Woher das Interesse an dieser Generation? „Wir müssen vorbereitet sein“, sagt May. Darauf, dass der Krieg vermutlich noch lange dauern wird. Darauf, dass die russische Propaganda weiter ihre Kreise ziehen und dass man ihr begegnen müssen wird. Aber auch darauf, dass es irgendwann wieder möglich sein wird, die Zukunft in der Ukraine selber zu gestalten. Theater ist für May in erster Linie ein Ort für den Austausch. Mit seinem Theater will May die Jugendlichen ermuntern, sich selbst zu befragen: Was bedeutet es, Ukrainer:in zu sein?

Für May sind diese Jugendlichen, die teilweise schwer traumatisiert und ohne Eltern in Deutschland angekommen sind, eben diese „Zukunft Europas“. „Ihre Stimmen müssen gehört werden“, sagt er. Daher arbeitet er ausschließlich mit autofiktionalen Texten: Jeder und jede ist für das Gesagte auf der Bühne selbst verantwortlich. Der Probenprozess war mindestens ebenso wichtig wie das Resultat am Ende.

Alle sagen: Ich will nach Hause

Lange ging es in den Gesprächen ganz bewusst um alles Mögliche, nur nicht um den Krieg. Was erträumen sich die zwölf Jugendlichen von dem, was kommt? Eines haben May zufolge alle gemeinsam: „Sie alle sagen: Ich will nach Hause. Ich will meinen Vater sehen. Meine Wohnung, mein Zimmer.“ Jenseits dessen aber unterscheiden sich die Perspektiven stark, je nach Altersgruppe. „Die 18-Jährigen wollen nicht über die Zukunft sprechen. Sie haben vor allem Angst.“ Die Jüngeren aber, die 13-Jährigen, wüssten oft ganz genau, was sie wollten. Basketballstar werden zum Beispiel. „Sie stürzen sich dann auch ohne Ängste in das Spiel auf der Bühne.“

Auch die Aktivitäten von Andriy May haben etwas Sturzflutartiges, ein Projekt jagt das nächste. Im Oktober folgt eine Premiere in Köln (der Titel: „Putinprozess“), im November soll die von ihm gegründete „Woche des aktuellen Theaterstückes“ in Kiew wieder stattfinden. Notfalls online. Das Goethe Institut ist mit im Boot. „Wir brauchen Orte des Austauschs. Auch Orte, die die Trauer übernehmen können“, sagt May. „Wir brauchen Stücke über Butscha. Erst dann können wir anfangen, das hinter uns zu lassen.“

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