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Ali Johnson und Ibrahima Ndiaye, die Idolboyz aus Senegal.

© Idol Boyz

Akte des Widerstands: Tanztage-Finale zu Migration

Nach selbstreferenziellem Auftakt stehen am Ende der Potsdamer Tanztage Stücke, die Fluchterfahrungen verarbeiten: Aus der Ukraine und aus dem Senegal.

Fast wirkt es rückblickend, als hätte das Festival erst einmal Anlauf holen wollen. Beim Auftakt der Tanztage hatte man noch das tänzerische Feuer und vor allem die Antwort auf folgende Frage vergeblich gesucht: Warum dieses Stück, warum an dieser Stelle? Spätestens beim Finale am Wochenende stellte sich keine dieser Fragen mehr. Auf Mette Ingvartsens selbstreferenzielles „Moving in Concert“ folgte ein Festival, das sich bewusst wie selten der konkreten Welt widmete, in der wir leben.

Die 33. Ausgabe schaute nach Prag, Abidjan und auf die Straßentänze Afrikas, erkundete die Harmonie von Körpern mit Behinderung und ohne. Und bevor zum Abschluss mit „Where the Boys are“ nochmal gezeigt werden sollte, wie man testosterongefütterte Kraft in Zärtlichkeit umwandeln kann, ging es um ein Thema, das auch scheinbar ferne Welten mit der eigenen kurzschließt: Migration. In zwei Stücken, die unterschiedlicher kaum sein konnten. Und sich doch näher waren, als auf den ersten Blick zu sehen.

Wir brauchen unsere Brüder. Sie sind Afrikas Zukunft. 

Tänzer Ibrahima Ndiaye über sein Stück „Nein zur Auswanderung“

Zunächst war da „Mbeuk mi wossi“ im T-Werk, zu Gast aus dem Senegal und erstmals überhaupt in Europa. Vor wenigen Tagen erst gab es Tote bei Demonstrationen für Oppositionsführer Ousmane Sonko, der sich besonders für die vernachlässigte Jugend starkmacht. Ali Johnson und Ibrahima Ndiaye, die Idolboyz, umtanzen im Wortsinn das Dilemma, mit dem sich ein Großteil der gebildeten senegalesischen Jugend konfrontiert sieht: Angesichts von Korruption und Massenarbeitslosigkeit im eigenen Land – gehen oder bleiben?

„Mbeuk mi wossi“ heißt auf Deutsch: Nein zur Auswanderung. So klar wie der Titel ist auch die tänzerisch formulierte Message. Zwei junge Männer ringen miteinander um ein kleines Boot. Angepeitscht von immer neuen Rhythmen balgen, umtanzen, umkämpfen sie einander, bis schließlich beide im Boot um Platz ringen – und über Bord gehen.

Im Tanz mischt sich Hip-Hop mit Zeitgenössischem und Stammestänzen. Was „Mbeuk mi wossi“ so mitreißend macht, ist die Kraft und Virtuosität. Und eine Tatsache, die im Nachgespräch erst richtig deutlich wird: Tanz ist hier existenziell. „Wir brauchen unsere Brüder“, sagt Ibrahima Ndiaye, und meint die gebildete Jugend des Landes. „Sie sind Afrikas Zukunft.“ Tanz ist ihr Werkzeug, um andere vor dem Tod im Mittelmeer zu bewahren. Ein Werkzeug, das sie in Workshops an Kinder und Jugendliche in Thiès weitergeben.

„Every Minute Motherland“ von der Maciej Kuzminski Company aus Warschau. Auch geflüchtete Tänzer:innen aus der Ukraine waren daran beteiligt.
„Every Minute Motherland“ von der Maciej Kuzminski Company aus Warschau. Auch geflüchtete Tänzer:innen aus der Ukraine waren daran beteiligt.

© Mariusz_Marciniak

„Every Minute Motherland“ anschließend in der Fabrik wirkte zunächst unvergleichlich stiller, trauriger. Die sieben Tänzer:innen der polnischen Maciej Kuzminski Company, darunter einige, die vor dem Krieg in der Ukraine geflüchtet sind, bewegen sich gemeinsam über die Bühne, dazu melancholische Klavierklänge. Immer wieder verharrt jemand, wird Außenseiter, gliedert sich wieder ein.

Grundlage für die Performance waren Berichte der ukrainischen Tänzer:innen über das Trauma des russischen Angriffskrieges. Und auch dieses Stück hat ein klares Ziel: Es will ein „Akt des Widerstands“ sein, gegen die Verbrechen Russlands. Beine werden zu ausgestreckten Schusswaffen mit Visier, Explosionen scheinen die Körper zu erschüttern, alptraumhafte Zuckungen gehen durch Körper, die wie schlafend am Boden liegen. Oder tot?

Aber auch wenn diese Momente erschüttern: „Every Minute Motherland“ zielt auf etwas anderes ab. Was überwiegt, ist das Motiv der Gemeinsamkeit: Immer wieder formiert sich hier etwas neu. Einmal kommt das Ensemble frontal auf das Publikum zu: in kleinen, knickenden Bewegungen, aber unaufhörlich. Am Ende Anklänge an Folkloretänze, in Zeitlupe. Die Erinnerung an Zeiten, in denen man unbedarft tanzte? Oder das Versprechen, dass es das auch wieder geben wird.

„Mbeuk mi wossi“ und „Every Minute Motherland“ sind nochmals am 10. Juni zu sehen. Am 11. Juni gehen die Tanztage mit „Where the boys are“ zu Ende. Programm und Tickets unter www.potsdamer-tanztage.de

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