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Blättern in der Vergangenheit. Patric Zocher (40) und seine Frau Nicole schauen sich Urlaubsbilder an. Vor einem halben Jahr war die Welt noch in Ordnung, dann kam die chronische Krankheit ALS in ihr Leben. „Ich kann meine Frau nicht mal mehr umarmen“, sagt Patric Zocher.

© Andreas Klaer

Leben mit der Krankheit ALS: Wenn alles anders kommt

Patric Zocher aus Potsdam ist an ALS erkrankt. Seine Frau und er erzählen vom Alltag zwischen Frust, Wut und Hoffnung.

„Ich dachte, jetzt wird alles gut“, sagt Nicole Zocher. Nach der Schlecker-Pleite vor drei Jahren hatte sich die Verkäuferin nicht unterkriegen lassen, bis sie einen neuen Job fand. Erst in einer Supermarktfiliale, dann im Dorfzentrum Seddin. Nach all dem Stress sollte Ruhe ins Leben kommen. Sie und ihr Mann Patric Zocher hatten Hausbaupläne.

Aber alles kam anders. Vor wenigen Monaten wurde bei Patric Zocher die seltene Krankheit ALS, Amyotrophe Lateralsklerose, diagnostiziert – bei der Nervenzellen irreversibel beschädigt oder zurückgebildet werden, bis der Mensch langsam die Kontrolle über sämtliche Muskeln verliert. So lange, bis zuletzt sogar das Atmen unmöglich wird. Mehr Männer als Frauen erkranken daran, meist im mittleren Alter. In Potsdam ist es etwa eine Handvoll.

Patric Zocher ist gerade 40 Jahre alt geworden. Und fühlte sich vor einem halben Jahr noch kerngesund. Jetzt sagten ihm die Ärzte nach einem monatelangem und zermürbendem Untersuchungsmarathon: „Noch zwei bis fünf Jahre.“ Was soll er damit anfangen? Worauf sich einstellen? Ein Pflegebett, worauf er Anspruch hätte, kommt noch nicht in sein Schlafzimmer, hat er für sich entschieden. Dafür ist er noch nicht bereit. „Man, wir haben so lange auf dieses Bett gespart“, sagt er frustriert.

Man kann das nicht allein durchstehen

Der Abschied vom ganz normalen Leben – der hat längst begonnen. Früher hat er Kampfsport gemacht, ist als Modell aufgetreten, nahm an Wettbewerben teil. „Ich war Mister Teltow und Mister Stahnsdorf“, sagt er. Und als sehr junger Mann hatte er eine Gastrolle in „Löwenzahn“ mit Peter Lustig. Jetzt kann er kaum noch laufen, sitzt nach wenigen Schritten schlapp im Sessel. 20 Kilo Muskelmasse hat er in den letzten Wochen abgenommen. Seine Frau umarmen geht nicht mehr. Die Arme hängen herunter, das Gefühl ist raus, die Finger sind taub. Sprechen und Atmen geht nur langsam. Wenn er etwas sagt, verleihen Atempausen seinen Sätzen einen leisen, unfreiwilligen Nachdruck. „Diese Krankheit, das geht alles so schnell“, sagt er.

Seine Frau hat sich mit dem Thema, mit der ungewöhnlichen, so plötzlichen Erkrankung ihres Mannes, an die Öffentlichkeit gewandt. Weil man damit schlecht allein zu Hause rumsitzen kann, sagt sie. Weil zu viele Menschen viel zu wenig über ALS wissen. Weil sie spürt, dass sie Hilfe brauchen werden. Man kann das nicht allein durchstehen. Allein die ganze Arbeit mit den Papieren ist nervig, Anträge an die Krankenkasse stellen für Hilfsmittel, die oft, wenn sie bewilligt werden, schon wieder sinnlos geworden sind. Was soll der Mann bei einer ambulanten Rehakur, wenn er nicht mehr hinfahren kann? Wenn man ihm dort zum Mittag einen Teller Suppe hinstellt, ihm, der nicht alleine essen kann? Also muss sie Therapeuten suchen, die ausnahmsweise Hausbesuche machen. Muss Termine mit Ärzten planen, den Mann hinfahren, Gespräche führen, vielleicht zusätzliche Untersuchungen erbetteln. „Ich gebe die Hoffnung nicht auf“, sagt Nicole Zocher. Hoffnung, dass es vielleicht doch etwas anderes ist als dieses Gespenst ALS. Oder dass ihr Mann noch geheilt werden könnte, weil die Forschung ein Medikament entdeckt.

„Gemeinsam für Patric, gemeinsam gegen ALS“

Deshalb haben sie eine FacebookGruppe gegründet, „Gemeinsam für Patric, gemeinsam gegen ALS“. Hier wollen sie sich mit anderen Betroffenen vernetzen, Freunde über die Krankheit informieren. Wollen Zuspruch sammeln – aber auch Spenden. Im Freundeskreis sind schon gut 1000 Euro zusammengekommen. Die brauchen sie für den Umbau des Badezimmers. Die Badewanne, in der Patric Zocher das letzte Mal einen halben Tag saß, weil die Beine plötzlich versagten und er alleine war, muss schnellstens raus. Eine ebenerdige Dusche muss rein. Die Kasse zahlt nur anteilig.

Was zählt, sind aber auch die Freundschaften, die Familie, die ehemaligen Kollegen. Patric Zocher arbeitete bei der Step als Kraftfahrer. Er war ein Typ, den man in der Stadt kannte: groß, Glatze, zwei Ohrringe links, offenes, freundliches Gesicht, orangefarbene Arbeitsklamotte. Jetzt machen andere seinen Job. „Aber wenn die Kollegen hier in der Straße die Tonnen leeren, machen sie immer eine Pause für ihn, quatschen und rauchen am Gartenzaun eine Zigarette“, sagt seine Frau. Sie fahren mit großen blau-weißen Aufklebern für Patrics Facebook-Seite am Auto durch Potsdam. Und haben kürzlich einen Grillabend für ihn organisiert. Ausgehen in Restaurants wollen die beiden nicht mehr, seit er gefüttert werden muss. Das ist ihm unangenehm.

Sie waren noch im Urlaub

Eines haben sie aber noch gemacht, obwohl sie schon längst von der Diagnose wussten. Sie waren noch einmal im Urlaub in der Dominikanischen Republik. Fahren Sie ruhig, hatte der Arzt gesagt. Dort waren sie schon einmal, gute Erinnerungen hängen daran, das Wohnzimmer ist voll mit Urlaubsfotos eines jungen, vitalen Paares.

Jetzt bleibt Patric Zocher der Garten. Noch schafft er die paar Stufen aus dem Obergeschoss hinunter. Auch wenn er immer Angst hat, zu stürzen. „Ich könnte mich ja nicht mal mit den Armen abfangen“, sagt er. Betreutes Wohnen wurde ihm angeboten. Aber den Rest des Lebens mit kranken alten Menschen verbringen? Patric Zocher kann sich das nicht vorstellen. Also hat seine Frau ihren Job aufgegeben, damit sie ihn betreuen kann und er hat eine Erwerbsunfähigkeitsrente beantragt. Sie haben auch schon darüber gesprochen, wie sie damit umgehen, sollte es Patric Zocher eines Tages richtig schlecht gehen. Manche ALS-Erkrankte müssen zuletzt beatmet und über eine Sonde ernährt werden und können nicht mehr sprechen. „Das möchte ich nicht“, sagt Patric Zocher.

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