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Landeshauptstadt: Workuta begann in der Leistikowstraße

Das erste Themenjahr der Gedenkstätte: Auftakt mit Erinnerungen ehemaliger Gulag-Häftlinge

Die Kälte. Die Dunkelheit. Die meisten Erinnerungen von Häftlingen an ihre Ankunft im Lager Workuta beinhalten das grausame Wetter – den eisigen Wind und die Temperaturen, die mit denen eines mitteleuropäischen Winters nicht vergleichbar sind.

„Es gibt nichts Besseres als die Erinnerungen derjenigen, die das überlebt haben, die Zeitzeugen“, sagte Ines Reich, Leiterin der Gedenkstätte Leistikowstraße, zu Beginn der Lesung „Wir waren in Workuta...“. Zum ersten Mal veranstaltet die Gedenkstätte des ehemaligen KGB-Untersuchungsgefängnisses in Abstimmung mit dem Gedenkstättenverein und dem Verein Memorial Deutschland ein Themenjahr mit entsprechendem Veranstaltungsprogramm: 2013 soll an den 60. Jahrestag des Häftlingsaufstands im Arbeitslager (Gulag) Workuta erinnert werden.

Die Lesung am Mittwochabend diente als Auftaktveranstaltung, unter den Gästen waren sowohl Gedenkstättenvereinsvorsitzender Richard Buchner als auch Gisela Kurze von Memorial Deutschland. Im Mittelpunkt des Abends standen die Erinnerungen dreier Häftlinge, deren Weg in das russische Arbeitslager nördlich des Polarkreises hier in der Leistikowstraße begann – gewohnt sachlich-professionell vorgetragen von Klaus Büstrin.

Alle drei Autoren überlebten die Jahre im Bergbau, und wie viele weitere Überlebende des kommunistischen Terrors schrieben sie ihre Erinnerungen auf, oft wurden Bücher daraus. Ihre stilistische Unterschiedlichkeit verdeutlicht, dass auch das System Workuta individuelle Menschen nicht zu brechen vermochte, Menschen mit ihrer feinen Beobachtungsgabe, mit Ironie und Humor, Stolz oder Gleichgültigkeit zur richtigen Zeit, der ihnen oft genug ein Überleben ermöglichte.

Und doch: Immer wieder tauchen ähnliche Puzzleteile in den Schilderungen auf. Immer ist es kalt, immer ist da der Hunger. Aussteigen, die Lok pfeift, Zählappell. Und überall dieser Geruch – der Abraumhalden. Eine Wortwahl, die irgendwie an andere furchtbare Zeiten, damals noch gar nicht lange her, erinnert und doch für jeden Einzelnen hier die Grenze der persönlichen Belastbarkeit bedeutet.

Günter Martins merkt gleich am ersten Tag, dass eine Art Russenmafia hier das Sagen hat. Eben hat er von einem Amerikaner einen Tropenanzug geschenkt bekommen, zwar nutzlos, aber „aus herrlichem Zwirn“, schon wird er diesen und eine Winterjacke los. Die zwei Jahre von 1951 bis 1953 überlebt er wegen seiner Anpassungsfähigkeit und vielleicht auch, weil er den Rat eines Mithäftlings, eines Mediziners, befolgt. Er soll sich zwingen, den Kopf der kleinen rohen Fische, die zur täglichen Lebensmittelration gehören, mitzuessen. „Da sind das meiste Jod und Tran drin“, sagt dieser. Also würgt er sie runter. Zu seinen Aufzeichnungen gehören auch Beobachtungen über die Umwelt, über die „Einheimischen in dieser Art Goldgräberstadt“. Auf dem täglichen Marsch zum Arbeitsort lief er gern außen, obwohl dort die Wachposten gefährlich nah waren, damit er seine Umgebung sehen konnte: „War ich schon mal hier, interessierten mich Land und Leute“.

Hergart Wilmanns, damals 17, schreibt fast lyrisch über ihre Ankunft in der Hölle, wo sie sieben Jahre bleiben sollte. Wie sie die Entlausung und Hygienemaßnahmen durchläuft, die sie unter anderem auf Effektivität aus Sicht der kleinen Tiere betrachtet, und beschreibt ihren Kampf um einen gelben Pullover und ein gepunktetes Kopftuch „von zu Hause“, Worte mit heilsamem Wohlklang.

Ganz anders die Schilderungen von Johann Urwich, der zu den Organisatoren des Streiks in Workuta gehörte und einer der fünf Sprecher der Aufständigen war. Urwich selbst war erst kurz vorher aus Kasachstan mit einem Transport in das Lager im Nordural gekommen. Statt der versprochenen Hafterleichterungen waren die Arbeitsbedingungen dort noch schlimmer. Urwich, der aus einer deutsch-stämmigen Familie aus Siebenbürgen stammt, schreibt revolutionär-politisch, er analysiert die Verhältnisse in den einzelnen Lagern während des Aufstands, wer kann mit wem und wer nicht, was passiert wann und wo – eine unglaubliche Leistung, wenn man bedenkt, wie schwierig Informationsbeschaffung und -weitergabe waren. Einige Zuhörer hätten sich im Vorfeld der Lesung und vor allem des Beitrags von Urwich Hintergrundinformationen über das Lager und den Aufstand gewünscht, bei dem 1953 über 60 Menschen getötet und mindestens 100 verletzt wurden. Das Lager bestand noch bis Ende der 50er Jahre. Bis zu zwei Millionen Gefangene wurden dorthin deportiert. Tausende überlebten das nicht. Hergart Wilmanns, Günter Martins und Johann Urwich kamen wieder nach Hause. Heute ist Workuta eine Stadt mit 70 500 Einwohnern.

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