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Siebeneinhalb Tabletten. Carlina bricht sie wieder aus, die Schwester versucht es auf einem anderen Weg: Sie zermörsert die Tabletten und reicht sie mit Joghurt. Das funktioniert. Passiert ist das im Klinikum „Ernst von Bergmann“ – dort wird der Vorfall bedauert.

© A. Klaer

Zehnfache Medikamentendosis: Wochenlang außer Gefecht gesetzt

Ein kleines Mädchen bekam die zehnfache Dosis eines Epileptiker-Medikaments. Im Bergmann-Klinikum bedauert man den Vorfall - und spricht von einem Einzelfall.

Potsdam / Werder (Havel) - Epileptiker sind auf Medikamente angewiesen, um Anfälle zu dämmen. Reicht das Basismedikament nicht aus, kann Frisium helfen. Das hochwirksame Zusatzmedikament ist mit Vorsicht zu genießen, es drohen schnelle Abhängigkeit und Nebenwirkungen – von Benommenheit bis hin zu komatösen Zuständen. Die kleine Carlina* hat im Januar die zehnfache Dosis Frisium im Potsdamer Ernst-von-Bergmann-Klinikum bekommen, die ihr verschrieben worden war. Ein übles Versehen, von dem sich das fünfjährige Mädchen erst nach Wochen erholen sollte.

Carlinas Eltern, Jaqueline und Michael P.* aus Werder (Havel), haben einen Rechtsanwalt eingeschaltet. Im Klinikum bedauert man den Vorgang, spricht von einem Einzelfall, den es so noch nicht gegeben habe. „Wenn alle unsere Sicherheitskriterien eingehalten worden wären, hätte es nicht dazu kommen können“, versicherte die ärztliche Direktorin des Klinikums, Ortrud Vargas Hein, gegenüber den PNN.

Vor zweieinhalb Jahren hatten Carlinas Eltern Zuckungen an ihrem Kind beobachtet, die Diagnose: Epilepsie. Im Sozialpädiatrischen Zentrum des Klinikums wurde Orfiril long – ein Klassiker – als Basismedikament empfohlen. Carlina blieb damit zweieinhalb Jahre anfallsfrei. Es ist nicht unüblich, nach einer so langen Zeit zu probieren, ob es ohne Medikament geht. Bis Oktober letzten Jahres wurde Orfiril schrittweise abgesetzt, doch es funktionierte nicht wie erhofft. Die Anfälle kehrten zurück, Carlina musste wieder auf das Mittel eingestellt werden.

Die Krankheitssymptome nahmen trotzdem zu, die Anfälle wurden häufiger. Anfang Januar musste Carlina eine Woche ins Klinikum, erlitt am 10. Januar den sogenannten Gran Mal, den typischen großen epileptischen Anfall mit Bewusstseinsverlust, Zuckungen und Krämpfen. Einen Tag nach der Heimkehr hatte Carlina dann am 16. Januar eine Serie von vier epileptischen Anfällen in kurzer Folge.

Die Eltern kehren zurück ins Klinikum – zu einem Aufenthalt, den sie in schlechter Erinnerung behalten. In der Notaufnahme sagt ihnen eine Kinderärztin, dass Carlina bleiben, zwei weitere Medikamente nehmen soll, darunter Frisium. Nach dem Abendessen hat das Mädchen den fünften Anfall an diesem Tag. „Ich bin auf der Station geblieben, als mir vom Personal gesagt wurde, dass nur drei Schwestern für 30 Kinder im Dienst sind“, so Jaqueline P.

Am späten Abend erscheint eine Schwester mit dem Frisium. Besonders Kinder gelten als Risikopatienten für diese Arznei. Statt 7,5 Milligramm, die die Ärztin verordnet hat, verabreicht sie 75 Milligramm – siebeneinhalb der sieben Millimeter großen, ovalen Tabletten. Die Packungsbeilage ist eindeutig: Fünf Milligramm sind das empfohlene Maximum für Kinder. Carlina bricht die Tabletten wieder aus, die Schwester versucht es auf einem anderen Weg: Sie zermörsert die Tabletten und reicht sie mit Joghurt. Das funktioniert.

Carlina schläft unruhig, ihr Gesicht schwillt in der Nacht an, sie muss mehrfach auf die Toilette, kann sich nicht mehr aufrecht halten und kaum sprechen. „Ich dachte, es liegt an den vielen Anfällen in so kurzer Zeit“, erinnert sich Jaqueline P. Am Morgen ist Carlina schwach und weinerlich, die Mutter informiert eine Schwester, ein herbeigerufener Arzt lässt sich nicht blicken. Die Mutter soll das Frisium an diesem Morgen selbst verabreichen, die Schwester drückt ihr eine halbe Tablette, fünf Milligramm, in die Hand. Die verordnete morgendliche Dosis.

Jaqueline P. merkt erst jetzt, dass etwas schiefgelaufen ist: Sie sagt der Schwester, dass am Vorabend zweimal siebeneinhalb Tabletten verabreicht wurden. Ärzte erscheinen, Carlina wird auf die Intensivstation gebracht, die Mutter über den Fehler ins Bild gesetzt. Etwa 100 Milligramm Frisium hat Carlina wohl im Blut, wird der Mutter auf der Intensivstation gesagt – das Zwanzigfache der für so kleine Kinder empfohlenen Dosis.

Nach zwei Tagen lassen Carlinas Eltern sie ins Berliner Virchow-Klinikum verlegen. „Unser Vertrauen ins Bergmann war futsch“, sagt Michael P. „Wir hatten den Eindruck von einem unprofessionellen und völlig überlasteten Personal.“ Etwa vier Wochen ist Carlina außer Gefecht gesetzt. Organische Schäden gibt es zum Glück keine, aber die Psyche hat gelitten. Bei der Tochter habe sich festgesetzt, dass sie „ganz ganz doll krank“ ist.

Das Potsdamer Klinikum hat Kontakt zu Familie P. aufgenommen, sagte die ärztliche Direktorin Vargas Hein. Der Fehler sei einer erfahrenen Schwester unterlaufen, als sie die korrekte ärztliche Dokumentation in die Pflegedokumentation übertrug. Der Vorgang sei ausgewertet worden – und sei ein Thema in den Gremien des Hauses. „Grundsätzlich können alle Patienten darauf vertrauen, dass im Klinikum die richtige Dosierung ihres Medikamentes festgesetzt wird“, so Vargas Hein. Um menschliches Versagen, wie in diesem Fall, weitgehend auszuschließen, werde das Risikomanagement des Klinikum jetzt weiter ausgebaut.

„Uns ist nicht begreiflich, wie es dazu kommen konnte“, ergänzte der Pflegedirektor des Klinikums, Sebastian Dienst. Die Schwester habe offenbar einen „Blackout“ gehabt. Schon allein die erhebliche Menge der Tablettengabe hätte auffallen müssen, so Dienst. Die Schwester sei nochmals geschult worden. Dass die Kinderklinik unterbesetzt gewesen sei und womöglich zu hoher Arbeitsanfall die gefährliche Fehlmedikation ausgelöst haben könnte, schloss Dienst kategorisch aus. „Die Station war mit 30 Kindern nicht mal voll belegt.“ Es seien auch nicht drei Schwestern auf der Station gewesen, wie Carlinas Eltern erklärten. „Es waren vier examinierte Kolleginnen, außerdem noch Auszubildende und Servicepersonal in dieser Spätschicht im Einsatz.“

Dienst bedauert den Vorfall und betonte, dass er nicht unter den Tisch gekehrt werde. „Das hat uns sehr getroffen und es hallt nach. Wir können uns nur bei der Familie entschuldigen.“

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