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Das Brandenburgische Landeshauptarchiv digitalisiert zur Zeit etwa 42.000 NS-Akten mit mehr als 1,5 Millionen Blättern.

© Andreas Klaer

„Wir beginnen bei den Täterakten": Wie Forscherinnen in Nazi-Dokumenten NS-Raubkunst aufspüren

Für ein bundesweit einmaliges Projekt am Landeshauptarchiv in Potsdam werden NS-Akten digitalisiert und ausgewertet. Forscherinnen wollen dadurch Raubkunst ausfindig machen.

Potsdam/Berlin - Siebzehn Tage, bevor die Nationalsozialisten Siegfried Levi deportierten, zwangen sie ihn, eine „Vermögenserklärung“ auszufüllen. Levi musste an diesem 29. November 1942 angeben, wie viel Miete er für die Wohnung in der Schlüterstraße 54 in Berlin-Charlottenburg bezahlte (225,40 Reichsmark monatlich). Und wie groß sein Gesamtvermögen war. „Kann von hier nicht festgestellt werden“, notierte Levi in etwas krakeliger Schreibschrift. 

Auf Seite elf unter Punkt VI., „Kunst- und Wertgegenstände“, wollten die Nazis wissen: „Besitzen Sie Gemälde, Antiquitäten, Gold- oder Silberwaren, Schmuck, Juwelen oder sonstige Kunstgegenstände und Sammlungen?“ 

Levi gab dort an, ein Gemälde des Künstlers Arnold Böcklin namens „Dryaden“ zu besitzen. Ein Schenkungsvertrag sei beigefügt. Unterschreiben musste er mit dem Zwangsnamen Siegfried „Israel“ Levi. Am 25. November 2015, 73 Jahre später, wurde das Gemälde „Dryaden“ aus dem Jahr 1897, Öl auf Leinwand, bei einer Herbstauktion im Berliner Auktionshaus Grisebach versteigert. Für 75 000 Euro, inklusive Aufgeld. In der Fasanenstraße in Charlottenburg, nur vier Straßen von Siegfried Levis damaliger Wohnung entfernt.

Irena Strelow erforscht den Verbleib von NS-Raubkunst - mit einem ungewöhnlichen Ansatz

Auf der Spur dieses und vieler weiterer Kunstwerke, die die Nationalsozialisten von jüdischen Bürgerinnen und Bürgern raubten, ist heute Irena Strelow. Sie ist Provenienzforscherin, widmet sich also der Herkunft von Kunstwerken und Kulturgütern, speziell von „NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut“. Am Brandenburgischen Landeshauptarchiv Potsdam Am Mühlenberg in Golm leitet sie ein Pilotprojekt, das, wie sie betont, in seiner Bedeutung und Tragweite für die Provenienzforschung einzigartig sei.

Das Archiv ist gerade dabei, 42 000 NS-Akten der sogenannten Vermögensverwertungsstelle – Siegfried Levis Akte ist eine davon – zu digitalisieren und der Öffentlichkeit bereitzustellen. Strelow bezweckt damit, NS-Raubkunst ausfindig zu machen – so etwa auch das Böcklin-Gemälde

Irena Strelow forscht am Brandenburgischen Landeshauptarchiv nach dem Verbleib von NS-Raubkunst.

© Andreas Klaer

Für das Vorhaben müssen die Akten erfasst, restauriert, eingescannt und schließlich ausgewertet werden. Im November 2020 ging das Pilotprojekt im Landeshauptarchiv an den Start, bis 2023 will das zehnköpfige Team rund um Projektleiterin Julia Moldenhawer und Provenienzforscherin Irena Strelow fertig sein.

Normalerweise würde NS-Raubkunst „objektorientiert“ erforscht, die Spur eines einzelnen Gemäldes würde rekonstruiert werden, sagt Strelow. Das Projekt hingegen nimmt die Täterakten in den Blick. „Ich forsche personenzentriert. Erst im letzten Schritt stoße ich auf ein Kunstobjekt“, erklärt Strelow. Möglicherweise sei das auch der Grund, weshalb ein solches Projekt erst jetzt verwirklicht werde.

„Dabei ging es um die ‚restlose Verwertung' des Eigentums“

Die Enteignungen jüdischer Bürgerinnen und Bürger war im Nationalsozialismus gesetzlich geregelt. „Es lief alles am Gesetz entlang“, sagt Strelow. Wo Gesetze aus Sicht der Nationalsozialisten nicht ausreichten, wurden sie Stück für Stück erweitert. Im November 1941 trat etwa die sogenannte Elfte Verordnung zum Reichsbürgergesetz in Kraft. Dadurch wurden Geflohene automatisch ausgebürgert und ihr Vermögen wurde dem „Deutschen Reich“ übertragen. „Dabei ging es um die ‚restlose Verwertung' des Eigentums“, erklärt Strelow.

Aber auch jene, die geblieben waren, sollten enteignet werden – nach ihrer Deportation in die Konzentrationslager. In Berlin übernahm das das Finanzamt Moabit-West, das von diesem Zeitpunkt an „Vermögensverwertungsstelle“ des Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg hieß. Die Behörde zwang Juden und Verfolgte, jene „Vermögenserklärungen“ auszufüllen, die auch Siegfried Levi ausfüllen musste.

Restauratorin Sarah Halama beim ersten Sichten der Akten, die auch die "Vermögenserklärungen" enthalten.

© Andreas Klaer

„Weil die Verfolgten das Formular meist unmittelbar vor der Deportation ausfüllen mussten, sehen die Schriften wahnsinnig zitterig aus. Oft sind auch Flecken auf den Blättern. Man kann sich denken, was das ist…“, sagt Strelow. In vielen Fällen sind die Vermögenserklärungen, die heute im Landeshauptarchiv lagern, die letzten handschriftlich verfassten Dokumente der Ermordeten. 

Das macht sie gerade für Hinterbliebene so wertvoll. „Für die Nachkommen ist es häufig überwältigend, die Unterschrift ihrer Vorfahren zu sehen.“ Nicht selten ist das Formular das einzige, was von den Menschen geblieben ist. „Es ging den Nazis um die vollkommene Auslöschung der Identität.“

„Jeder wusste, dass Hitler Kunst aus dem 19. Jahrhundert gesammelt hat“

Nachdem die Menschen deportiert worden waren, gingen NS-Beamte mit den Formularen in ihre Wohnungen und lösten sie auf, nahmen Wertvolles mit. Befanden sich Kunstschätze im Besitz der Verfolgten, musste das dem Reichsfinanzministerium mitgeteilt und die Kunst dem sogenannten Führermuseum in Linz angeboten werden. „Jeder wusste, dass Hitler Kunst aus dem 19. Jahrhundert gesammelt hat“, erklärt Provenienzforscherin Strelow. 

Werke Alter Meister gingen hingegen meist an die Staatlichen Museen zu Berlin. Andere Gemälde wiederum wurden von Kunsthändlern versteigert, häufig an andere Städtische Museen in Deutschland. In Berlin habe von den Städtischen Museen besonders oft das Märkische Museum geraubte Kunstwerke gekauft, sagt Strelow. Sie betont aber, dass es sich bei dieser Erkenntnis um den jetzigen Stand der Forschung handele und im Laufe des Pilotprojekts möglicherweise weitere Museen ausfindig gemacht werden könnten. 

Der Kunsthändler, bei dem auch Gurlitt kaufte

Die Einnahmen aus den Verkäufen gingen an die Finanzbehörde. „Damit wurde der Krieg finanziert“, erklärt Strelow. Ein bestimmter Kunsthändler spielte eine besonders große Rolle: Hans W. Lange. Er organisierte Versteigerungen in Berlin und manchmal anderen Städten, zu denen die systemkonforme Oberschicht geladen war: Großindustrielle und „Kunstvermittler“, die aus Sonderfonds Bilder für deutsche Museen einkauften. 

Auch der Kunsthändler Hildebrand Gurlitt kaufte bei Lange. Sein Name wurde 2013 deutschlandweit bekannt, weil damals enthüllt wurde, dass sein Sohn und Erbe eine Raubkunstsammlung jahrzehntelang versteckt gehalten hatte. Hildebrand Gurlitt war zu Beginn des Zweiten Weltkriegs ein Haupteinkäufer für das „Führermuseum“ in Linz.

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„Bei den Auktionen wurde sich überboten, Geld spielte keine Rolle“, sagt Provenzienzforscherin Strelow. Der Auktionär Hans W. Lange bekam stets einen gewissen Prozentsatz Provision. Zehn Prozent bekam er durch die Versteigerung von „Dryaden“ von Alfred Böcklin, das Gemälde, das einst Siegfried Levi gehörte. 

Im Oktober 1943, etwa ein Jahr nach Levis Deportation, wurde das Gemälde von Hans W. Lange in Wien bei einer Sammelversteigerung für 16 075 Reichsmark verkauft. Im Vorfeld ließ der Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg die Echtheit prüfen. Der Münchener Kunsthändler Ernst Hanfstaengl bescheinigte, dass es sich „unzweifelhaft“ um „ein Original von Arnold Böcklin“ handelte.

Insgesamt umfassen die Akten 1,5 Millionen Blätter

Mit diesem Bild befasst Irena Strelow sich bereits vor dem Start des Projekts im Landeshauptarchiv. Ihre Hoffnung ist, sobald die Akten digitalisiert sind, noch mehrere solcher Fälle ausfindig zu machen. Bis es soweit ist, müssen die Akten einen vierteiligen Prozess durchlaufen. Die einzelnen Schritte finden teils parallel statt. Im Moment werden die Akten restauriert und erste davon auch digitalisiert.

Die Akten müssen vor der Digitalisierung gesichtet und restauriert werden.

© Andreas Klaer

Das Projekt wird mit 3,6 Millionen Euro aus öffentlichen Mitteln finanziert. Den Großteil, 3,3 Millionen Euro, bezahlt die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Monika Grütters (CDU), aus ihrem Budget. 

Von dem Geld werden alle Stellen, aber auch die externen Dienstleister bezahlt, die es für das Projekt unweigerlich braucht – auch allein aufgrund der Vielzahl an Akten. Insgesamt handelt es sich um 1,5 Millionen Blätter. Würde man die Archivkartons, in denen die Akten aufbewahrt werden, übereinanderstapeln, wäre der Kistenturm 169 Meter hoch. 

Die Regale im Landshauptarchiv, in denen die NS-Akten lagern, sind tonnenschwer.

© Andreas Klaer

Externe Dienstleister aus Leipzig und Großbeeren übernehmen die Restaurierung und die Digitalisierung. „Die Akten dürfen aber nicht digitalisiert werden, bevor sie nicht gesichtet worden sind“, sagt Projektleiterin Julia Moldenhawer. „Der ganze Prozess muss möglichst schonend ablaufen. Denn unsere Aufgabe ist es, die Akten möglichst für die Ewigkeit zu erhalten.“

Julia Moldenhawer leitet das Pilotprojekt.

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Die Restauration: Säure, die zersetzt - Metallklammern, die rosten

Im Landeshauptarchiv selbst wurden also alle Akten erfasst, das Material begutachtet und eingeschätzt, was in der Restauration gemacht werden muss: Welche Blätter müssen entsäuert werden, weil die Säure das Papier langfristig zersetzen würde? An welchen Blättern sind Metallklammern, die entfernt werden müssen, weil sie mit der Zeit rosten? Wo müssen Risse geschlossen werden, damit das Papier nicht zerfällt? Wo müssen vielleicht Schimmelsporen entfernt werden? 

Eine Akte wird auf Schimmelbefall getestet. Dafür muss eine Probe entnommen werden.

© Andreas Klaer

Das entschieden Restauratorin Sarah Halama und ihre Kollegin Franziska Sommer. Sie hatten dafür jede der 42 000 Akten in der Hand. Ein halbes Jahr dauerte die „Zustandserfassung“. Sarah Halama war zwischenzeitlich oft froh, dass sie ihre Kollegin hatte. „Es lässt einen mitnichten kalt, was man da sieht. Gerade Handschriften, die Namen, die Todesdaten, manchmal auch Fotos. Man ist sich sehr bewusst, was man da in der Hand hat“, sagt Hamala.

Museen wissen häufig nicht, dass sie Raubkunst ausstellen

Sobald die Akten eingescannt sind, müssen die Scans im nächsten Schritt erfassbar gemacht werden. Dafür entwickelt Provenienzforscherin Irena Strelow ein Datenmanagementsystem mit. Damit sollen die Akten digital nach bestimmten Schlagworten, die mit dem NS-Kunstraub in Verbindung stehen, durchsucht werden können.

Spätestens ab März 2022 rechnet Strelow mit Ergebnissen der Auswertung und hofft, dann bereits Kunstobjekte ausfindig machen und Museen, die diese Kunst ausstellen, anschreiben zu können. 

Häufig wüssten Museen nämlich nicht, dass es sich bei ihren Objekten um geraubte Kunst handele. Aber Strelows Erkenntnisse würden schließlich Beweise liefern. „Wir werden hier in der digitalen Datenbank die Opferdaten haben und so schlussendlich nachweisen können, dass die Kunst von den Nationalsozialisten geraubt wurde“, sagt Strelow. 

Doch den Verbleib der Kunstwerke ausfindig zu machen, könnte zum Schluss die schwierigste Aufgabe sein. Häufig werden Kunstwerke anonym versteigert. So wie das Gemälde „Dryaden“ von Arnold Böcklin bei der Grisebach-Auktion 2015. „Das Bild ist jetzt erstmal verschwunden.“

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