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Landeshauptstadt: Wacht am Tatort

Die Haltestelle am Bahnhof Charlottenburg wird zum Wallfahrtsort – auch von ungebetenen Gästen

Potsdam-West - Es waren ungebetene Gäste. Auch Rechtsextreme haben inzwischen schon die Haltestelle am Bahnhof Charlottenhof besucht, den Ort, an dem Ermyas M. fast tot geprügelt wurde und wo seit Tagen eine Mahnwache steht. Hier ist ein ständiges Zentrum des stillen Gedenkens an den Deutsch-Äthiopier entstanden, organisiert von etwa 20 ganz normalen Jugendlichen aus Potsdam. Mit Kerzen, Bildern, Aufrufen. Viele Bürger kommen, bleiben lange stehen. Doch auch die andere Seite kommt. Zum Provozieren.

An einen Fall vom Dienstag erinnert sich Vüvüane Borchert, eine der Initiatoren der Mahnwache. „Die Nazis sahen erst nur zu.“ Dann kamen sie näher. Eine Frage der jungen Rechtsextremen: „Warum passiert so etwas nicht, wenn ein Deutscher von einem Türken umgebracht wird?“ Die 21-Jährige antwortete, dass es um einen Menschen gehe, der wegen seiner Hautfarbe schwer verletzt worden sei, dass er einen deutschen Pass hatte. „Da gingen sie wieder.“ Dass nach dem von einem Türken verübten Polizistenmord in Berlin vom vergangenen Monat mehrere tausend Menschen bei einem Trauermarsch liefen, daran hat sie in diesem Moment nicht gedacht.

Doch gibt es auch ältere Potsdamer, die sich über die Mahnwache am Tatort aufregen und noch tief im Gedankengut des Nationalsozialismus verankert scheinen. „Man müsste alle Ausländer vergasen“, hat ein vorbeikommender Senior zu Vüvüane Borchert gesagt. Doch spiegeln solche Fälle – etwa vorbeifahrende Autos mit Neonazis, die aus dem heruntergelassenen Fenster gröhlen – nicht die Grundstimmung wieder, die an diesem Platz der Andacht herrscht. Eine alte Frau soll geweint haben, als sie ihre Blumen niederlegte.

Eine, die immer kommt, wenn sie Zeit hat, ist die Berliner Künstlerin Irmela Schramm. Für ihr Kunstprojekt „Hass vernichtet“ hat sie unter anderem im vergangenen Jahr den Erich-Kästner-Preis gewonnen. Ihr Konzept: Quer durch Deutschland reisen und in jeder Stadt Nazi-Schmierereien erst fotografieren und dann überpinseln oder wegwischen. „Ich dachte, ich verliere den Verstand“, sagt die 60-Jährige über die ersten Gedanken, nachdem sie von dem Überfall hörte.

Nun steht sie hier, auch vorgestern am späten Abend. Rund zehn andere, meist junge Leute, reden über das, was passiert ist. Wollen helfen. Die Idee: Eine Art Liste soll entstehen, auf der die Besucher der Wacht ihre Gedanken zu dem Verbrechen niederschreiben können. „Unsere Gefühle dürfen nach dem ersten Aufruhr nicht untergehen, die Familie von Ermyas muss merken, dass wir helfen wollen und an sie denken“, sagt Irmela Schramm.

In diesem Moment erscheinen in den späten Abendstunden zwei Männer, Ende 30. Angetrunken schieben sie ihre Fahrräder, Irmela Schramm muss zur Seite treten, damit sie nicht angerempelt wird. Verachtende Blicke der Männer auf die sanft flackernden Lichter. Durch ihre Augen blickt das andere Potsdam.

Szenewechsel: 22 Stunden später. Die Gruppe will eine Mahnwache am Platz der Einheit organisieren, die ersten Kerzen stehen schon. Da kommt die Nachricht, dass zwei Tatverdächtige festgenommen wurde. „Super“, sagt Dirk-Arne Fiedler vom Café Fajngold. Dort war Ermyas M. Stammgast. Die Kerzen für seinen schwer verletzten Freund zündet Fiedler trotzdem an. Henri Kramer

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