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Bislang erfolglos. Ermittler der Soko „Schlaatz“ in ihrem Besprechungsraum der Kriminalpolizei in Potsdam.

© R. Hirschberger

Suche nach Elias in Potsdam: Übersinnliche Kräfte?

Im Fall des vermissten Elias aus Potsdam meldeten sich auch Hellseher mit Hinweisen bei der Polizei – ohne Erfolg. Kein Wunder? Ein Blick in die wundersame Geschichte der Kriminaltelepathie in Deutschland.

Potsdam - Seit einigen Tagen macht es in Potsdam die Runde: Hellseher haben der Polizei für die Suche nach dem am 8. Juli spurlos verschwundenen sechsjährigen Elias Hinweise gegeben – und drängen mit ihren skurrilen Ratschlägen für die Ermittler in die Öffentlichkeit. Bislang sind bei der Polizei Hinweise „im unteren zweistelligen Bereich“ von selbst ernannten Hellsehern und Wahrsagern eingegangen. Allen Eingebungen ist die Soko „Schlaatz“ nachgegangen und hat sie geprüft. Aber sie haben „nicht zur Auffindung von Elias oder zu einer weiter zu verfolgenden Spur geführt“, wie ein Polizeisprecher auf PNN-Anfrage sagte.

Trotz der harten Fakten – die Faszination für derlei Übersinnliches lässt sich kaum verleugnen. Das zeigt auch der Erfolg von Krimi-Fernsehserien, in denen Menschen mit übersinnlichen Fähigkeiten als sogenannte psychic detectives, kurz Psi Detective, in Ermittlerteams sind. Und selbst erfahrene Beamte der Brandenburger Polizei haben schon mit Hellsehern zu tun gehabt, es gibt sogar führende Beamte, die in ihrer Karriere schon einmal Erfolg mit solchen Hinweise hatten. Aber das ist eher die Ausnahme als die Regel.

Mehrere selbst ernannte Hellseher und Wahrsager meldeten sich mit Hinweisen zu Elias

Immerhin hat in der deutschen Polizei der Umgang mit Hellsehern und Telepathen eine lange Tradition. Das reicht bis in die 20er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurück. Der Potsdamer Autor Steffen Meltzer, selbst Beamter, hat diese Geschichte aufgearbeitet. Auch Wissenschaftler befassen sich mit dem Phänomen, etwa am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (IGPP) in Freiburg. Wissenschaftlich ausführlich erforscht ist vor allem die Geschichte der Kriminaltelepathie für die Zeit der Weimarer Republik.

Erstmals dokumentiert wurde die offizielle Ermittlungshilfe von Hellsehern für die Polizei im Jahr 1919. Es lag wohl auch an den begrenzten technischen Mitteln der Ermittler bei der Aufklärung von Morden – an Fingerabdrücke und DNA-Spuren war nicht zu denken. Offenbar war es durchaus verbreitet, Parapsychologen für die Ermittlungen hinzuzuziehen. Im österreichischen Wien wurde 1921 sogar ein „Institut für kriminaltelepathische Erforschung“ gegründet, doch nach wenigen Monaten schon wieder geschlossen.

Früher wurden Parapsychologen häufig zu Ermittlungen hinzugezogen

Es war übrigens Albrecht Hellwig (1880–1951), der Amtsrichter in Frankfurt (Oder), Referent im preußischen Justizministerium und ab 1921 Landgerichtsdirektor in Potsdam war, der umfangreiches Material zu Hellsehern bei Ermittlungen sammelte und kriminalpsychologische Studien veröffentlichte. Er galt als ausgewiesener Fachmann für Parapsychologie und Kriminaltelepathie. Und er wies angeblichen Telepathen mehrfach nach, dass es sich um Betrüger handelte.

Zu den bemerkenswerten Einzelfällen aus dem Archiv von Hellwig, das im Freiburger Psychohygiene-Institut lagert, zählt auch der Fall der sogenannten Wahrträumerin Minna Schmidt aus Frankfurt am Main. Sie war an der Suche nach den Leichen zweier Bürgermeister beteiligt. Es handelte sich um einen Doppelmord im Jahr 1921. Der damalige Oberbürgermeister von Herford kehrte mit dem ehemaligen Amtskollegen aus seiner Stadt von einem Spaziergang in den Wäldern um Heidelberg nicht zurück. Die Suche nach ihnen blieb zunächst erfolglos. Die Wahrträumerin Schmidt soll korrekt erklärt haben, wo die Leichen zu finden sind. In der Polizei war die Zusammenarbeit mit Hellsehern und Anhängern des Okkultismus dann so verbreitet, dass sich das preußische Innenministerium 1929 gezwungen sah, die Zusammenarbeit mit Telepathen per Erlass einzuschränken.

Erst in den 1950er Jahren warnten Experten vor der Zusammenarbeit mit Hellsehern

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Polizei zunächst wenig Berührungsängste, mit Sehern zusammenzuarbeiten. Doch dann warnte der Freiburger Psychologieprofessor Hans Bender als wichtigster Vertreter der Parapsychologie in Deutschland bereits in den 1950er-Jahren, Aussagen von Kriminalmedien seien zwar für die Wissenschaft interessant, aber für Ermittlungen meist nutzlos. Fast „gemeingefährlich“ nannte er sogar das Vorgehen selbst ernannter „okkulter Detektive“.

Trotz aller Zurückhaltung bei der Polizei, sich von Hellsehern helfen zu lassen, kommt es gleichwohl immer wieder zur Zusammenarbeit, etwa als RAF-Terroristen 1977 den damaligen Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer entführten. Im Zuge der Suche nach Schleyer befragten ein Polizeipsychologe und ein Beamter der Bundeswehrschule für „Psychologische Verteidigung“ auch den Niederländer Gerard Croiset, damals in Europa einer der bekanntesten Hellseher, der sich auf die Aufklärung von Verbrechen und die Suche nach Vermissten spezialisiert hatte. Croiset äußerte Vermutungen zu Schleyers Aufenthalt. Die Ermittler waren überaus beeindruckt, die Polizei veranlasste auf Grundlage der Aussagen auch Observationen, in einer Garage fanden Beamte dann den Fluchtwagen der RAF, mit dem Schleyer entführt worden war. Später beschwerte sich der Polizeipsychologe, dass nicht allen Hinweisen des Niederländers gefolgt wurde, obwohl dieser konkrete Hinweise auf das Haus, in dem die RAF Schleyer gefangen hielt, gegeben habe. Der Entführte hätte gerettet werden können, beklagte der Psychologe.

Bei den Ermittlungen zu einem Mord des Neonazi-Terrortrios NSU lud die Polizei einen Wahrsager aus dem Iran ein

In anderen Fällen gestaltet sich die Zusammenarbeit der Polizei mit Hellsehern und Wahrsagern im Rückblick grotesk. Etwa bei dem Mord an dem türkischen Gemüsehändler Süleyman T. in Hamburg-Bahrenfeld im Jahr 2001. Mit drei Schüssen in den Kopf wurde er hingerichtet. Um es vorwegzunehmen: Süleyman T. ist eines der insgesamt zehn Todesopfer – neun davon Kleinunternehmer mit Migrationshintergrund – in der Mordserie des Neonazi-Terrortrios NSU. Über Jahre aber fand die Polizei in Hamburg nichts, 500 Hinweisen war sie erfolglos nachgegangen. Deshalb lud die Hamburger Polizei 2008 sogar einen Wahrsager aus dem Iran ein – mal wurde er als Metaphysiker bezeichnet, mal als Geistheiler – und besorgte ihm ein Visum. Er bekam die Daten zu dem Verbrechen und trat angeblich in Kontakt mit dem getöteten Süleyman T. Das vermeintliche „Ermittlungsergebnis“ aus Sicht des Wahrsagers: Es war ein junger Täter, vermutlich Südländer, wohl Türke, das Opfer habe Kontakt mit Rockern gehabt, deren Chef hieß Armin, es ging um Drogen und andere Sachen.

Auch im Fall des 2007 aus einer Ferienwohnung in Portugal verschwundenen Mädchens Madeleine Beth McCann aus Großbritannien, bekannt als Maddie, taten sich Hellseher hervor, besonders über die Medien. Darunter auch Michael Sch. aus Siegburg, der sich auch im aktuellen Potsdamer Fall um den vermissten Elias mit medialer Begleitung an die Potsdamer Polizei gewandt hat. Sch. ist nach eigenen Angaben „primär hellhörig“,habe eine „innere Stimme“ und Eingebungen. Im Fall Maddie stellte er per Ferndiagnose fest, dass die Leiche des Mädchens 40 Kilometer von der Ferienwohnung der Eltern entfernt liegen müsse. Die Polizei fand nichts, Sch. immerhin hatte ein paar Auftritte im Fernsehen.

Wissenschaftliche Studien belegen: Hellseher führen in der Regel nicht zur Aufklärung von Verbrechen

Wissenschaftlich untersucht wurde der heutige Umgang der Polizei mit Hellsehern nur wenig. Das Ergebnis einer Studie in den Niederlanden ist ernüchternd. In den wenigsten Fällen brachten Hinweise von Hellsehern die Ermittler weiter. Eine Abfrage der Vermisstenstelle des Landeskriminalamtes Bayern ergab: Hellseher haben der bayerischen Polizei in keinem einzigen Fall „einen brauchbaren Hinweis gegeben“ oder „auch nur im Entferntesten weitergeholfen“. Eine Untersuchung am Hamburger Institut für kriminologische Sozialforschung ergab 2007, dass nur wenige Landeskriminalämter Erfahrung mit Hellsehern gemacht haben. Hellseher führten demnach in der Regel nicht zur Aufklärung von Verbrechen.

Und der bekannte Kriminalbiologe Mark Benecke, der Übersinnliches nicht von Grund auf ablehnt, testete 2011 eine Frau, die von sich aus anbot, ihre seherische Gabe bei Kriminalfällen einzusetzen. Nach Prüfung von fünf konkreten Fällen mit dem „Medium“ stellte Benecke nüchtern fest: Die Visionen der Frau waren „für kriminalistische Untersuchungen nicht verwendbar“. Und er stellte fest, „dass die Seele nach dem Tod eines Menschen nicht existiert beziehungsweise nicht als Energie vorliegt, die etwas kriminalistisch Verwertbares mitteilen kann“.

Ausgeschlossen ist ein Treffer aber nie, das geben auch Experten zu. Bei Angehörigen von Opfern schwerer Straftaten wecken Hellseher, Übersinnliche, Wahrsager Hoffnung. Besonders wenn die Polizei mit ihren üblichen Methoden über längere Zeit nicht weiterkommt, die Medien den Fall aber immer wieder zurück ins öffentliche Bewusstsein holen, der Druck auf die Ermittler hoch ist. Dann melden sich auch Hellseher bei der Polizei. Bestätigt wurde die in sie gesetzte Hoffnung bislang selten. Zuweilen ist es schlichte Wahrscheinlichkeitsrechnung: Bei Hunderten Vermisstenfällen pro Jahr ist sicherlich auch mal ein Treffer dabei. Die Frage ist: Zufall von Hochstaplern oder Können von Hellsehern?

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