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Jörg Reichert leitet das Team der Notfallseelsorge Potsdam. 

© Andreas Klaer,PNN,Tsp

20 Jahre Notfallseelsorge in Potsdam: Sprachlosigkeit gemeinsam aushalten

Seit 20 Jahren kümmert sich die Potsdamer Notfallseelsorge um Menschen in Ausnahmesituationen. Was sich seither verändert hat und was den Ehrenamtlichen Sorge bereitet. 

Potsdam - Manchmal gerät die Welt für einen Menschen von einem Moment auf den anderen aus den Fugen. Ein Unfall. Ein Suizid. Eine Gewalttat. Zurück bleibt ein Partner, eine Tochter, ein Freund oder ein Vater. Und das Entsetzen. In Ausnahmesituationen wie diesen leisten Jörg Reichert und seine Kollegen erste Hilfe. Erste Hilfe für die Seele. 

Reichert leitet das Team der Potsdamer Notfallseelsorge und Krisenintervention. Seit 20 Jahren sind die Ehrenamtlichen im Einsatz und leisten Beistand, am Freitag wurde in der Feuerwache das Jubiläum gefeiert. Der Dienst ist an die Feuerwehr angegliedert. 60 bis 70 Einsätze haben sie in Potsdam pro Jahr, 2021 waren es mit 90 Einsätzen mehr – auch wegen der intensiven Begleitung, nachdem eine Pflegerin im Oberlinhaus vier Bewohner mit Behinderung getötet und eine schwer verletzt hat. „Das letzte Jahr hatte eine außergewöhnliche Einsatzintensität“, beschreibt Seelsorge-Leiter Reichert. „Aber das ist nicht unser Alltag.“ 

Benachrichtigung per Pieper

Weit häufiger als zu Gewalttaten werden die Seelsorger zu Sterbefällen gerufen, nach schweren Unfällen, bei misslungener Reanimation oder plötzlichem Kindstod. Angefordert werden die Ehrenamtlichen meist vom Rettungsdienst oder der Polizei. Die Seelsorger tragen einen Pieper und werden per SMS benachrichtigt. Sie stehen Hinterbliebenen zur Seite, aber auch Zeugen eines Unglücks oder Gewaltopfern. 

Die Notfallseelsorge Potsdam gibt es seit 20 Jahren. 

© Andreas Klaer,PNN,Tsp

„Sie sind ganz besondere Menschen, die sich zu jeder Tages- und Nachtzeit auf den Weg machen, um sich um jene Menschen zu kümmern, die mit ihren Gedanken, Emotionen und Hilflosigkeit sonst allein gelassen wären“, sagte der Potsdamer Feuerwehrchef Ralf Krawinkel bei der Jubiläumsfeier am Freitag laut Mitteilung. 

Schreien oder schweigen

„Es geht nicht darum, unmittelbar Trost zu spenden“, stellt Reichert klar. Die Seelsorger sind keine Psychologen. Sie sind da, um die Menschen in ihrem ersten, unmittelbaren Schmerz zu begleiten und zu betreuen. „Wir helfen ihnen zu einer Stabilität zurückzufinden“, sagt er. Dabei ist die Reaktion in der emotionalen Ausnahmesituation sehr unterschiedlich. „Ich nehme den Menschen so an, wie er mir gegenübertritt“, beschreibt es der 55-Jährige. „Er darf wütend sein, er darf schreien, er darf schweigen. Das steht ihm in dieser Situation zu.“ Der Seelsorger schaut, wie er unterstützen kann. Das kann praktische Hilfe sein, ein Anruf bei Familie oder Freunden. „Mitunter geht es nur um das gemeinsame Aushalten von Sprachlosigkeit. Um das gemeinsame Schweigen“, so Reichert. 

Der Berufsfeuerwehrmann ist seit der Gründung vor 20 Jahren bei der Potsdamer Notfallseelsorge. Auch vorher hat er schon Seelsorge geleistet – allerdings für Kameraden, für Kollegen nach besonders schweren Einsätzen. In Brandenburg geht die Initiative zurück auf den evangelischen Pfarrer Peter Sachse. In Potsdam kam der Impuls aus dem Umland. Ein Kollege aus Werder (Havel), so berichtet es Reichert, habe einen „Kreis von Gleichgesinnten um sich geschart“. Reichert und einige weitere absolvierten die Schulung, 2002 konnte die 24-Stunden-Rufbereitschaft in Potsdam an den Start gehen. 

Anderer Umgang mit Belastung

Seither habe die Akzeptanz der Seelsorge zugenommen. Das liege, glaubt Reichert, auch daran, dass sich der Umgang mit Belastungsmomenten in der Arbeit bei Feuerwehr, Rettungsdienst und Polizei verändert habe. Habe es damals eher geheißen, ein Kamerad müsse „Eiswürfel pinkeln“ können, hätten viele heute ein wacheres Auge für die eigene Belastung. „Damit ist auch das Verständnis für die direkt Betroffenen in einschneidenden Situationen gewachsen“, sagt Reichert. 

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Mit Sorge beobachtet er einen gesellschaftlichen Trend, der seine Arbeit umso nötiger macht. „Ich habe den Eindruck, dass die Vereinsamung sich immer weiter zuspitzt.“ Der Einsatz der Seelsorger ist als Stütze zur Überbrückung gedacht, bis das soziale Netz greift, so beschreibt es Reichert. Er oder seine Kollegen sind meist für eine oder mehrere Stunden da, bis ein Verwandter, ein Freund, ein Nachbar die Unterstützung übernehmen kann. „Aber immer häufiger kommt es vor, dass es über den soeben verstorbenen Partner hinaus keinen Freundeskreis gibt, dass ein soziales Netzwerk keine Selbstverständlichkeit mehr ist.“ 

Eine weitere Beobachtung treibt Reichert um: „Mitunter kommen wir in Haushalte von hochbetagten Menschen, bei denen nichts geregelt ist.“ Zur Bestattung, zu medizinischen Fragen am Lebensende, vieles sei unausgesprochen – das erschwere die Situation zusätzlich. „Oft werden zentrale Fragen, um die sich kein Mensch herummogeln kann, nicht geklärt.“ Er appelliert: „Auch elementaren Dingen könnte durch eine offene Kommunikation über die Generationen hinweg die Schärfe genommen werden.“ 

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