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Landeshauptstadt: Minutiös geplant und ausgeführt: Nachtangriff der Royal Air Force auf „Crayfish“ Potsdam

724 Maschinen griffen in der Nacht des 14. April 1945 Potsdam an / Befehl zum Bombenabwurf um 22.39 Uhr / Zwanzig Minuten später war das Zerstörungswerk beendet und die historische Stadtmitte stand in Flammen

724 Maschinen griffen in der Nacht des 14. April 1945 Potsdam an / Befehl zum Bombenabwurf um 22.39 Uhr / Zwanzig Minuten später war das Zerstörungswerk beendet und die historische Stadtmitte stand in Flammen Der 14. April 1945 war ein sonniger, warmer Frühlingstag. Das Thermometer zeigte 13 Grad an. Wie der Wetterbericht besonders betonte, gab es eine ungewöhnliche Fernsicht. Das einzig Störende war ein böiger Nordwind bis zu 25 Studenkilometer in Bodennähe. Gegen 20 Uhr begann sich der Wind plötzlich in Richtung Ost zu drehen und kam zweieinhalb Stunden später aus Südosten. Es war Sonnabend, und die Bevölkerung genoss die Vorfreude auf einen arbeitsfreien Sonntag. Das Kriegsgeschehen bewegte sich in diesen Tagen im Westen auf die Elbe zu, im Osten war eine vorläufige Ruhe an der Oderfront eingetreten. Jeden bewegte die Frage, wann der seit 1939 währende Krieg zu Ende gehen würde. Vom Luftkrieg war Potsdam bisher weitgehend verschont geblieben. Zwar waren bei den zahlreichen Luftangriffen auf Berlin Einzel- oder Notabwürfe der Bomber auch auf das Potsdamer Stadtgebiet oder seine Umgebung gefallen, das erste Mal am 21./22. Juni 1940 – insgesamt fast fünfzigmal. Ein größerer Angriff fand jedoch nur einmal statt: am 21. Juni 1944, als während eines amerikanischen Tagesangriffs auf Berlin 40 viermotorige B-24 über Potsdam einen Bombenteppich von Hermannswerder bis Babelsberg abwarfen, der glücklicherweise nur fünf Todesopfer erforderte. Im Sommer 1944 entwickelte Sidney Bufton, Direktor der britischen Bomber- Operation, den „Thunderclap“-Plan, in dessen Verlauf durch massierte Großangriffe von mehreren tausend Maschinen in unablässig aufeinander folgenden Tag- und Nachtangriffen die deutschen Städte, vor allem Berlin, ausgelöscht werden sollten. Infolge der Kriegslage wurde der Plan zunächst zurückgestellt, dann aber 1945 realisiert. Listen waren längst vorhanden; in der Prioritätenliste vom 9. Februar 1945 taucht auch Potsdam an 8. Stelle unter dem Codenamen „Crayfish“ (Flusskrebs) auf. Der Angriffsbefehl (PRO London 24 – 315) ist eindeutig: Crayfish, 700 yards 106 Deg(ree)s from Crayfish A, Target and A/P for tonight 14./15. April (A/P Crayfisch A war die Nikolaikirche), der Bahnhof etwa 650 m = 700 yards entfernt. Ziel: To destroy railway facilities and barracks housing military and Nazi personnel. Die Angaben entstammen dem Dokument PRO London AIR/24/315 - 16750. Am 9. April kreiste ein britischer Aufklärer bei sonnigem Wetter über Potsdam und machte eine Serie von Fotos, die offenbar in der Einsatzbesprechung am 12. April eine Rolle spielten: auf einer der Aufnahmen ist das Bahnhofsgebiet auffallend durch schriftliche Markierungen eingekreist. Zunächst war geplant, den Angriff um 16.30 Uhr durch 255 „Lancaster“, unterstützt von 30 „Lancastern“ und acht „Mosquitos“ als Pfadfinder-Einheit sowie 13 „Mustang“-Squadrons (Jagdschutz) durchzuführen. Erst am 14. April wurde der Angriff in die Nacht verlegt – er sollte um 22.50 Uhr beginnen. Wettermaschinen hatten über dem Zielgebiet heftigen Wind mit 92 Stundenkilometern aus Nordwest festgestellt. Zur Angriffszeit hatte er sich aber auf über 100 Stundenkilometer verstärkt und begann sich in Richtung Osten zu drehen. Dies beeinflusste den Kurs- und Zeitplan einiger Maschinen. Zwischen 17.45 Uhr und 19 Uhr starteten auf 25 Flugplätzen nördlich von London 212 „Lancaster“ der I. Group, 198 „Lancaster“ der III. Group, 90 „Lancaster“ und 12 „Mosquitos“ der VIII. (Pfadfinder-)Group, insgesamt 512 Maschinen. Zusätzlich wurden zu drei Ablenkungsangriffen auf Cuxhaven, Berlin und Wismar 24 „Lancaster“ und 76 „Mosquitos“ eingesetzt. Zu speziellen Aufgaben wie Radarstörung, Überwachung der deutschen Nachtjagd-Fugplätze und weiteren setzte die für solche Sonderaufgaben gebildete 100. Group 112 Maschinen verschiedener Typen ein. Damit belief sich die Gesamtzahl der Maschinen in dieser Nacht auf 724. Den Angriff leitete als „Master Bomber“ Oberstleutnant Hugh Le Good in seiner „Lancaster“ PB 676 E. Der auf Potsdam angesetzte Bomberstrom – etwa 50 bis 60 Kilometer lang – flog auf der vorher festgelegten Route London - Abbeville - Cambrai - Mainz, dann in Richtung Hildesheim ein. Zwischen Paderborn und Kassel erfolgte der erste Angriff eines deutschen Nachtjägers, der Schusswechsel blieb beiderseits erfolglos. Bei Helmstedt wurde ein weiterer Nachtjäger-Einsatz verzeichnet – eine britische „Lancaster“ wurde beschädigt, setzte aber den Angriff fort. Unterdessen waren zwölf „Lancaster“ infolge von während des Fluges festgestellten Schäden zu ihren Heimatbasen zurückgeflogen. Als um 22.15 Uhr die Spitze des Bomberstroms den Raum Hannover / Braunschweig erreicht hatte, wurden in Potsdam die Alarmsirenen ausgelöst. Fünf Minuten später erschien über der Stadt eine „Halifax“ der 100. Group und kreiste unter heftigem Flakfeuer 13 Minuten lang. Einige Bomben wurden abgeworfen. Um 22.39 Uhr gab der Masterbomber über der Stadt den Befehl zum Abwurf der ersten Markierungsbomben. Diese wurden durch die Pfadfinder-Maschinen der VIII. Group abgeworfen, denn offenbar war der Einsatz der zwölf „Mosquitos“ ein Fehlschlag: nur zwei von ihnen führen ihren Auftrag durch und warfen je vier Markierungen zu 250 lb (1 lb = 453,6 gr). Während des Angriffs warfen die 90 „Lancaster“ der VIII. Pfadfinder- Group 76 grüne und rote Markierungen von je 1000 lb. Um 22.40 Uhr begann das Bombardement; die Instrumente des Wetterdienstes verzeichneten den Beginn durch heftige Ausschläge, so dass es an dieser Zeitangabe keinen Zweifel gibt. Zuerst setzte die VIII. Pfadfinder-Group ihre Beleuchtungsbomben. Die Stadt wurde taghell erleuchtet. Insgesamt wurden 836 Beleuchtungsbomben geworfen. In ihren Berichten betonen sehr viele Besatzungen, dass die Sicht in dieser wolkenlosen Nacht ausgezeichnet war, dass sie alle wichtigen Details auf dem Boden klar erkennen konnten. Fehlwürfe von Markierungsbomben und Bomben korrigierte der bis 23 Uhr über der Stadt kreisende Masterbomber sofort – in seinem Einsatzbericht beschreibt er, wie das Bombardement zunächst voll im Ziel lag, später in Richtung Westen vorverlegt wurde, was er dann mit Erfolg abstellen konnte und es wieder nach vorn verlegte. Die Maschinen flogen in einer Höhe von 5500 und 6500 Metern über Potsdam hinweg, nur die Pfadfindermaschinen benötigten einen zweiten Anflug, um ihre zusätzliche Bombenlast abzuwerfen. Das Gebiet um den Bahnhof stand bald in Flammen – um 22.57 Uhr explodierte auf dem Rangierbahnhof ein Munitionszug. Die letzten Bomber verließen Potsdam um 23.16 Uhr. Der Heimweg verlief über Trebbin - Bitterfeld – Harz - Koblenz - Boulogne - England. Noch im Harz sahen die Besatzungen das brennende Potsdam; Mosquito-Verbände meldeten die Brände auch noch in der folgenden Nacht, als sie Berlin angriffen. Zwischen 2 und 3 Uhr morgens erreichten die britischen Bomber ihre Basen in England. Eine durch einen Nachtjäger angeschossene Pfadfindermaschine stürzte bei Antwerpen ab, zwei weitere wurden wegen Schadens in der Luft aufgegeben. Zwei deutsche Nachtjäger wurden ebenfalls abgeschossen. Selbst mehr als fünfzig Jahre nach den Ereignissen des 14./15. April 1945 ergeben sich neue Aspekte. Bisher war bekannt, dass sich etwa bei Magdeburg zwei kleinere Verbände vom Hauptstrom der Bomber lösten, der eine in Richtung Neuruppin, der andere in Richtung Jüterbog. Beide wurden bisher als „Stanniol“-Einsätze bezeichnet. Erst jetzt wurde der eigentliche Zweck der Mission enthüllt: Beide Einheiten, die aus „Mosquitos“ der 141. und 239. Squadron/100. Group bestanden, führten den ersten Napalm-Einsatz der Royal Air Force auf die beiden Flugplätze Neuruppin und Jüterbog durch. Bis zum Kriegsende wurden noch weitere Napalm-Einsätze auf deutsche Flugplätze geflogen. Verbesserte Methoden der Luftbildauswertung ergeben neuerdings, dass nach dem Luftangriff nicht nur die Nikolaikirche, sondern auch das Alte Rathaus sowie das Windelband- und Knobelsdorffhaus am Alten Markt nur geringe Schäden aufwiesen. Sie wurden erst später durch den russischen Artilleriebeschuss zerstört. Im Jahre 2002 wurde in den „Potsdamer Neuesten Nachrichten“ das Luftbild eines amerikanischen Aufklärungsflugzeuges veröffentlicht – Datum: 14. April 1945. Der Schattenwurf zeigt, dass die Aufnahme etwa um 17 Uhr entstand, und somit ist dies offenbar die letzte Aufnahme des noch intakten Potsdams.

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