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Landeshauptstadt: „Mein liebes Viechle, lieber Molli“

Berührende Briefe zwischen England und Nazi-Deutschland: Eine Ausstellung über Kindertransporte

„Es ist ein furchtbares Gefühl, ich lebe hier wie im Schlaraffenland... wann beginnt ihr mit dem Auswandern?“, schreibt die zwölfjährige Eva 1939 aus England an ihre Eltern. „Liebes gutes Häsle, wir kommen wieder nicht zum Reisen...“, schreiben die Eltern im August 1941 aus Meiningen, und: „Habe Geduld.“ Was für eine unglaubliche seelische Belastung, was für ein Terror. Hier das Kind, in Sicherheit, aber elternlos, zu früh und brutal erwachsen geworden. Und dort die Eltern, in ständiger Gefahr, den mordenden Nazis nicht mehr entfliehen zu können. Erleichterung über die Rettung des Kindes einerseits und Angst vor der Zukunft andererseits. Sehnsucht und Sorge auf beiden Seiten. Und die Hoffnung, dass doch alles gut wird. All das liest sich in den Briefen, die von 1939 bis 1942 zwischen Eva Mosbacher in England und ihren Eltern Hedwig und Otto in Meiningen hin und her gingen. Bis diese in das Ghetto Belzyce bei Lublin deportiert wurden. Am Donnerstag wurde in der Urania daraus vorgelesen.

Dazu wurde auch die Ausstellung „Wenn ihr hier ankommt... Schicksal einer jüdischen Familie zwischen Kindertransport und gescheiterter Emigration“ eröffnet. Anhand von Dokumenten, Akten, Briefen und Fotos wird die tragische Geschichte dieser „ganz normalen Familie“, wie der Kurator Christoph Gann sagte, erzählt. Dass sie hier in Potsdam gezeigt wird und dass es sie überhaupt gibt, ist auch Hans Oleak, Potsdamer Astrophysiker und langjähriger Urania-Vorsitzender, zu verdanken. Dessen Frau stammte aus dem thüringischen Meiningen. Als die Schwiegereltern Else und Franz Heurich verstarben und der Nachlass sortiert werden musste, fand Hans Oleak das kostbare Material und weitere persönliche Dinge, Wertgegenstände der Familie Mosbacher, die mit den Heurichs befreundet war. Fassungslos sei er gewesen, weil in der Familie niemand davon gewusst hatte – und weil der Fund so brutal den Naziterror darlegte. Zu DDR-Zeiten habe es kein Interesse daran gegeben. Erst jetzt, Jahre nach der Wende, erfuhr Oleak, dass Meiningen die Schicksale der jüdischen Bürger aufarbeitet. Er nahm Kontakt auf zu Gann – das Ergebnis ist die Ausstellung, die nun bundesweit gastiert. Christoph Gann schrieb eine Chronik über die Familie, ein anschauliches und berührendes Büchlein. Es sei ein großes Glück, dass dank der Heurichs die Unterlagen, Zeugnisse deutscher Geschichte, erhalten blieben.

10 000 Kinder wurden vor Ausbruch des Krieges ins sichere Exil nach England geschickt. Nur für wenige gab es ein Wiedersehen mit den Eltern. Viele Eltern jedoch nahmen jahrelange Trennung und Ungewissheit in Kauf, um wenigstens die Kinder zu retten. Richtig vorstellen konnte sich damals keiner, welches Schicksal auf sie zukam. Auch das Ehepaar Mosbacher, er Kaufmann aus Nürnberg, sie eine gebürtige Meiningerin, hoffte, dass alles gut werde. Doch während einigen Familienmitgliedern die Emigration gelang, schafften es die Eltern nicht mehr. In den Briefen zwischen Eltern und Tochter, die mit zwölf Jahren, 1939, nach England zu einer Pflegefamilie kam, bemühen sich alle, die Situation so normal wie möglich erscheinen zu lassen, mit Witz und Leichtigkeit Sorgen zu kaschieren. Doch das gelingt mit den verstreichenden Monaten und Jahren immer weniger. Und man fragt sich unweigerlich: „Ab wann wussten sie, dass es kein Wiedersehen gibt?“

Aus dem Briefwechsel lasen einfühlsam die Potsdamer Schauspielerin Simone Kabst und Christoph Gann. Eva begann schon im Zug und auf dem Schiff nach England, zu schreiben. Berichtet fast stündlich, wie lustig es ist mit den anderen. Unbeschwertheit – wäre da nicht der Satz: „Habe ein paar Abschiede erlebt, die furchtbar waren.“ Das jüngste Kind der Gruppe ist kaum ein Jahr alt, das älteste 18 Jahre. Sie schwärmt von der Natur, davon, wie nett alle zu ihr sind. Und dann: „Na, hoffentlich bringe ich euch doch noch rüber.“ Die Eltern geben sich zuversichtlich. Bitten um Geduld. Fragen nach der Schule. Die typischen Elternsorgen und Ermahnungen. Eva geht auf eine der besten Schulen, lernt Reiten, gehört bald zu den Pfadfindern. Und doch ist sie unglücklich. Auch der Witz, der Humor, der bisweilen anklingt, beispielsweise wenn Eva über das Essen schreibt, „was man so versteht unter englischem Fraß“, kann darüber nicht hinwegtäuschen. „Hab mich mal richtig ausgeheult“, schreibt sie. Eva schneidet sich auf Vorschlag der Pflegemutter die langen Zöpfe ab – und bittet bei den Eltern um Entschuldigung. Tausend Küsse gehen hin und her. Die Eltern nennen die Tochter Häsle, sie schreibt an „mein liebes Viechle, lieber Molli“. Das tut weh, diese Innigkeit zu spüren, die dort zwischen Kind und Eltern herrscht. Und man fragt sich bisweilen, wer hier wem Mut macht, wer hier wem mehr vorspielt. Jeder Psychologe könnte anhand der abrupten Stimmungsschwankungen in Evas Briefen eine Depression diagnostizieren.

Es wäre wünschenswert, sagte Christoph Gann, wenn diese Ausstellung auch dazu anregt, über die aktuelle Flüchtlingsproblematik nachzudenken. Möglicherweise hätten Hedwig und Otto Mosbacher überlebt, wenn die USA nicht kurzfristig ihr Flüchtlingskontingent verkleinert hätten. Mehrmals stornieren sie gebuchte Schiffsplätze. 1956 lässt Eva ihre Eltern für tot erklären. Sie nimmt die britische Staatsbürgerschaft an und wird Krankenschwester. Zweimal besucht sie Verwandte in Südafrika, darunter ihre Großmutter. 1963 nimmt sich Eva Mosbacher in London das Leben.

Bis 2. Dezember in der Urania, Gutenbergstraße 71/72

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