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Oberlinschule in Babelsberg: Klassenraum statt Krankenzimmer

Vor 115 Jahren wurde die Oberlinschule, eine der ersten sonderpädagogischen Einrichtungen, gegründet.

Krüppelbeschulung, so hieß es noch bis in die 1930er-Jahre, wenn Schulunterricht für behinderte Kinder gemeint war. Der brachiale Terminus war damals durchaus gängig – und stand dennoch für etwas Besonderes. Die Babelsberger Oberlinschule, benannt nach dem Pfarrer und Reformpädagogen Johann Friedrich Oberlin (1740–1826), war eine der ersten in Deutschland und damit Vorreiter, was die Schulbildung für Kinder mit diversen Behinderungen und Einschränkungen betraf. Vor 115 Jahren wurde die Schule gegründet, vor 25 Jahren der Name von Körperbehindertenschule in Oberlinschule geändert. Mit einer Festwoche wird nun daran erinnert – am heutigen Freitagvormittag werden zum Festprogramm viele Gäste, darunter Bildungsminister Günter Baaske, erwartet.

Die Schule ist heute so groß wie nie. „Wir sind am Ende unserer Kapazität angelangt“, sagt Schulleiter und Geschäftsführer Uwe Plenzke. 294 Kinder und Jugendliche lernen und leben derzeit hier. 1991 waren es 70, 2003 schon 200 Schüler. Die Nachfrage ist ungebrochen, seit der Inklusionsdebatte noch ausgeprägter. 100 neue Anfragen gab es für das laufende Schuljahr, nur 45 Kinder konnten aufgenommen werden.

Die Kinder im Alter von sechs bis 21 Jahren können hier alle Bildungsgänge bis zum Zehnte-Klasse-Abschluss durchlaufen. Aufgenommen werden Kinder mit komplexen Problematiken, Körperbehinderungen und multiplen Sinnesbeeinträchtigungen, neurologischen Störungen wie Autismus oder Epilepsie, Störungen der motorischen und geistigen Entwicklung. Hier lernen auch Kinder mit chronischen Stoffwechselkrankheiten, nach Unfällen oder Organtransplantationen. Manche Schüler sind gleich nebenan im Wohnheim untergebracht.

Die ersten zwei Schüler waren 1886 der körperbehinderte Ludwig Gerhard und ein Jahr später die taubblinde Herta Schulz. Bis zur Einweihung des ersten Schulhauses 1899 wurden bereits 200 Kinder im Oberlinmutterhaus sowie im Krankenhaus unterrichtet – größtenteils direkt in den Krankenzimmern. Damals waren das noch viele Patienten, die an Polio oder Knochentuberkulose erkrankt waren, Wochen oder gar Monate in Gipsbetten liegen mussten.

Mit dem Schulhaus, in dem heute die Oberlinkita untergebracht ist, begann für die Schulkinder eine Art Normalität; wer mobil war, konnte in Klassenräumen unterrichtet werden. Dass man kranken und behinderten Kindern überhaupt eine auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Bildung und Therapie ermöglichte, brachte dem Oberlinverein 1900 auf der Weltausstellung in Paris eine Goldmedaille ein: für das ganzheitliche pädagogische Konzept. Die Replik der kostbaren Urkunde hängt im Flur neben dem Schulleiterzimmer.

Als die Schule 1952 verstaatlicht wurde, kamen tagsüber staatliche Gastlehrer ins Haus. In den Pausen und nach Schulschluss wurden die Kinder von Diakonissen betreut. „Eine ganz besondere Symbiose“, sagt Plenzke. Sie funktionierte so gut, dass 1990, als die Schule aus der DDR-Bevormundung entlassen wurde, viele Lehrer die Seite wechselten, von der Abteilung Volksbildung direkt an die Oberlinschule in freier Trägerschaft.

Heute sucht Plenzke händeringend neue Kollegen. Insgesamt arbeiten an der Schule 140 Mitarbeiter, darunter Physio-, Ergo- und Sprachtherapeuten, Heilpädagogen und Heilerziehungspfleger und etwa 75 Fachlehrer und Sonderpädagogen. Gerade diese seien schwer zu finden, im ganzen Land Brandenburg gibt es keinen Studiengang Sonderpädagogik.

Der Inklusionsdebatte sieht Plenzke gelassen entgegen. Die Inklusion sei eine tolle Sache, wenn sie professionell begleitet wird. Auch die Oberlinschule bietet diesbezüglich Beratung und Kooperation an. Trotz Inklusion werden Schulen wie sie allerdings weiter gebraucht. Gerade beim Übergang von der sechsten Klasse in die Sek I kommen viele Anfragen von Eltern. Oberschulen können oft nicht leisten, was in kleinen, familiären Grundschulen noch möglich ist, sagt Plenzke.

In Babelsberg bekommen die Kinder neben Unterricht und Therapie auch medizinische Rundumversorgung. Der ganze Campus ist zugeschnitten auf die speziellen Bedürfnisse der Kinder. Bei 50 Rollstuhlfahrern muss alles komplett barrierefrei sein, in manchen Klassenräumen stehen Krankenbetten. „Bei uns lernen auch Kinder mit progredienten, also sich stetig verschlechternden Zuständen“, sagt Plenzke. 2011 wurde ein Schulneubau fertiggestellt, zwei Jahre später der Altbau saniert. Auf 10 000 Quadratmetern Fläche befinden sich Räume für 36 Klassen.

Der große Vorteil der Oberlinschule ist ihr hoher Grad an Spezialisierung und dass sich hier alles unter einem Dach befindet. Dazu kommt die interne Durchlässigkeit. Niemand muss die Schule wechseln, weil sich herausstellt, dass ein anderer Abschluss, eine andere Ausrichtung, eine andere Therapie möglich ist.

Plenzke nennt ein Beispiel: Seit Kurzem besucht eine Zehnklässlerin die Schule. Nach einer erfolgreichen OP wegen eines Hirntumors kann sie nun nicht mehr sprechen und die Hände nur sehr eingeschränkt bewegen. „Wir müssen schauen, wie wir Zugang zueinander finden und kommunizieren können“, so der Schulleiter. Vielleicht kann sie dann den Schulabschluss machen und eine Ausbildung beginnen. Schulgeld muss an der Oberlinschule nicht gezahlt werden, das wird vom Bildungsministerium getragen. Unklar ist derzeit, in welcher Höhe Kosten für medizinische Maßnahmen und Betreuung der Kinder übernommen werden. „Wir sind dazu mit dem Ministerium im Gespräch“, sagt Plenzke.

Unterdessen werde über neue Schulstandorte nachgedacht. In einer wachsenden Stadt wie Potsdam gibt es selbstverständlich auch immer mehr Kinder, die ein besonderes Schulumfeld brauchen. Vor vier Jahren hatte Oberlin bereits das Norberthaus in Michendorf übernommen. Gern würde man an staatlichen Schulen sogenannte Außenklassen gründen. Das Bildungsministerium äußere sich zu solchen Kooperationsideen leider zurückhaltend, bedauert Plenzke.

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