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Volkskammerwahl am 18. März 1990: „Ich habe so etwas nie wieder erlebt“

Die Volkskammerwahl am 18. März 1990 war für Christian Funke eine besondere. Er gab sein Debüt als Wahlhelfer.

Von Peer Straube

Atemberaubend. Das Wort kommt wie aus der Pistole geschossen. Kein Zweifel, auch 20 Jahre nach dem denkwürdigen Ereignis ist Christian Funke noch immer beeindruckt. Für ihn, der nur Monate später zum Büroleiter von SPD- Oberbürgermeister Horst Gramlich aufsteigen sollte, war jener 18. März 1990 eine Premiere. Für die ersten freien Wahlen der DDR, jenen zur neuen Volkskammer, hatte sich Funke in Potsdam als Wahlhelfer gemeldet. Seitdem hat der 68-Jährige bei jedem Urnengang im Wahllokal gesessen.

Doch dieser Sonntag soll ein besonderer werden. Funke leitet die Wahl im Haus der „Kammer der Technik“, heute bekannt als Villa Arnim in der Weinbergstraße. „Die Leute haben angestanden und das auch noch mit Freuden“, sagt Funke. „Ich habe so etwas nie wieder erlebt.“ 93 Prozent Wahlbeteiligung. Unfassbar. „Die Menschen haben gespürt, das ist jetzt unsere Zeit, diese Chance werden wir uns nicht entgehen lassen.“

Als Wahlvorstand ist es Funkes Job, die Anstehenden bei Laune zu halten. Doch das muss er gar nicht. „Ich war erstaunt, wie wenig ich die Stimmung pflegen musste.“ Geduldig lassen sich die Wähler das neue Prozedere erklären und stecken dann ihre Zettel in die Urne. „Für mich war das ein Festtag“, erinnert sich Funke. „Ich war mächtig stolz“. Dabei hat er seine Kompetenzen sogar unterschätzt. „Ich habe geglaubt, die Stimmenauszählung machen Profis von der Stadtverwaltung oder sogar ein Gericht“, sagt Funke schmunzelnd. Dass die Wahlhelfer in jedem Lokal selbst für die Auszählung verantwortlich sind, sei ihm gar nicht in den Sinn gekommen. DDR-typische „Obrigkeitshörigkeit“ nennt er das heute.

Doch als man in Potsdam die Stimmzettel auswertet, kommt Überraschendes zutage, nicht nur in Funkes Wahllokal. Während der Rest der sterbenden Republik ihren ersten und letzten frei gewählten Ministerpräsidenten bejubelt, den Christdemokraten Lothar de Maizière, dümpelt die CDU in Potsdam bei 18,65 Prozent herum – weniger als der Hälfte des DDR-Ergebnisses. Deutlich vorn liegt dagegen der große Verlierer der Volkskammerwahl, die SPD, die DDR-weit nur auf 21,84 Prozent kommt. In Potsdam erreichen die Sozialdemokraten 34,85 Prozent, danach kommt schon die SED-Nachfolgepartei PDS mit 27,65 Prozent.

Doch nicht einmal das starke Abschneiden der PDS vermag Funkes Laune an diesem Abend zu trüben. Das SED-Monopol war gebrochen, das zählte. „Wir haben das als Befreiung empfunden.“

Das Entsetzen vieler Arbeitskollegen über den Wahlgewinn der CDU teilt der spätere SPD-Mann Funke nicht. Zu sehr ärgert ihn die vom damaligen SPD-Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine verbreitete „Anti-Einheitsstimmung“. Und mit der ihm eigenen „Wurschtigkeit“ wusch Funke seinen Kollegen gründlich den Kopf. „Ich habe denen gesagt, wenn die Einheit vergeigt wird, ist das eine Riesensauerei, denn diese historische Chance kommt vielleicht nie wieder.“ Funke freut sich über das Ergebnis. Mit de Maizière „hatte die CDU einen Mann an der Hand, der Vertrauen aufbauen konnte“.

20 Jahre später rennt das Volk Funke in seinem Wahllokal bei Urnengängen nicht mehr die Bude ein. Um die Menschen aus ihrer „persönlichen politischen Lethargie zu locken, sind die Parteien nicht attraktiv genug“, glaubt er. Sorgen um die parlamentarische Demokratie macht er sich trotzdem nicht. „Das ist doch die glücklichste Form, die wir haben.“

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