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Homepage: Faulheit bedarf besonderen Fleißes Soziologe Kammerer zur Zukunft der Arbeit

Wenn Forscher, Politiker, Ökonomen oder andere Potentaten der Gesellschaft in die Jahre kommen, nehmen sie oft kein Blatt mehr vor den Mund. Frei von institutionellen Zwängen sagen sie all das, was ihnen in ihrer Laufbahn an Erkenntnissen gediehen ist.

Wenn Forscher, Politiker, Ökonomen oder andere Potentaten der Gesellschaft in die Jahre kommen, nehmen sie oft kein Blatt mehr vor den Mund. Frei von institutionellen Zwängen sagen sie all das, was ihnen in ihrer Laufbahn an Erkenntnissen gediehen ist. Meist kommen sie heute dabei zu dem Schluss, dass wir nicht mehr so weitermachen können wie bisher. So auch Prof. Peter Kammerer, der auf Einladung der Civitas-Reihe der FH vor einem vollen Haus über das „Recht auf Faulheit“ sprach. „Da steht kein Fragezeichen hinter dem Titel“, betont der 68-jährige Wirtschaftswissenschaftler, der heute Soziologie an der Universität Urbino lehrt.

Grauer Bart, Frisur ohne Richtung, roter Schal um den Hals, einen grünen Stoffbeutel über die Stuhllehne gehängt – so inszeniert sich Kammerer vor seinem Publikum. Und wenn so einer dann frei nach Paul Lafargue davon spricht, dass uns die Fähigkeit zu Muße und Genuss abhanden gekommen ist, und darin auch der Schlüssel für mehr Arbeit für alle liege, dann geht beständig ein Kopfnicken durch die Reihen. Kammerer sagt Sachen, die man immer schon insgeheim gemeint hat zu wissen. Die Marktwirtschaft funktioniere doch nur durch stetiges Wachstum, beständige Rationalisierung und Steigerung der Produktivität der einzelnen Arbeitskraft. Was die Menschen auf lange Sicht hin zerstöre und entzweie. „Richtig“, hört man im Publikum, „genau“ sagt ein anderer. Keiner widerspricht dem Soziologen, wie einseitig und simpel sein Bild von der Welt auch sein mag.

Kammerer bemüht zahlreiche Zeugen. Da ist erst einmal seine Großmutter, die sehr glücklich über weniger Arbeit gewesen wäre. Unser heutiges Arbeitsethos existiere erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts, vor der industriellen Revolution sei Arbeit die Geißel der Armen gewesen. Der nächste Zeuge ist Goethe. Der habe über die Italiener festgestellt, dass sie nicht faul sind, auch wenn sie nicht so verkrampft an der Arbeit hängen wie die Deutschen. Alle seien dort tätig. Etwa auch dann, wenn einer einfach nur auf den Wind wartet. Wieder raunende Zustimmung im Publikum. Faulheit bedürfe eben eines besonderen Fleißes, es gehe darum , dass ein Leben auch mit weniger Arbeit möglich sein muss. Was wiederum mehr Arbeit für alle schaffe. Um Arbeit für alle zu haben, müsse man sie rationieren wie Wasser auf einem Schiff, habe schon Lafargue gewusst.

Hier zitiert Kammerer dann seinen Zeugen Jeremy Rifkin, der festgestellt hat, dass die technische Revolution mehr Arbeitsplätze vernichtet, als sie schafft. Dummerweise seien die Menschen heute aber so geeicht, dass sie ein Leben ohne Arbeit nicht ertragen können. Die schwierige Frage, wie man sich in einer Gesellschaft mit mehr freier Zeit ernährt, wie so etwas organisiert werden müsste, und wie der Markt damit umgehen könnte, klammert Kammerer an diesem Abend allerdings ebenso aus, wie den gescheiterten Sozialismus. Er gibt vielmehr Denkanstöße. Spricht von den Lügen der Politik, etwa wenn es heiße, die Wirtschaft müsse wachsen, um Arbeitsplätze zu schaffen. Oder wenn von der viel beschworenen nie da gewesenen Vollbeschäftigung die Rede ist. „Ich misstraue allen goldenen Zukunftsversprechen“, sagt Kammerer und rutscht auf seinem Stuhl hin und her wie einst Kabarettist Hüsch.

Werde eine neue Straße oder Schnellbahntrasse durch ein Naturschutzgebiet gebaut, heiße es, dass der Konsument darüber entschieden habe. „Haferkäs“, ruft Kammerer, das sei doch eine infame Lüge. Dann ist er bei dem immergleichen „Schund“ der heute in den meisten Läden angeboten werde, dann bei der Gehirnwäsche der Medien und der Werbung. Niemand glaube doch wirklich daran, dass „Geiz geil ist“. Schließlich präsentiert er seinen Kronzeugen, den Ökonomen Keynes. In einer weitgehend unbekannte Schrift habe Keynes festgestellt: Nur wenn wir frei von Existenzängsten leben, sind wir auch frei im Umgang miteinander. Keynes sah schon in den 30er Jahren all unsere Probleme mit der Verteilung von Arbeit voraus. Die grundsätzliche Frage sei, wie sich das Triebwerk ohne Absturz stoppen lasse. Musik, das Theater und ein wenig auch die Wissenschaft nennt Kammerer als Schlüssel für solch eine Entschleunigung. Im Grunde weiß er, dass seine Vorstellungen revolutionär sind: „Ein grundlegender Umbau des Systems“. Er spricht von einer Notbremse, die gezogen werden müsse. Und bekommt enthusiastischen Applaus dafür. Auch wenn allen klar ist, dass niemand diese Notbremse ziehen wird.

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