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Homepage: Eine tiefere Bedeutung

Der Technologiekritiker Joseph Weizenbaum gab dem Filmnachwuchs eine Lektion in kritischem Denken

Joseph Weizenbaum kann sehr unhöflich werden. Zumindest sagt er das selbst von sich. Die Warnung gilt den Zuhörern im voll besetzen Großen Kino der Filmhochschule HFF. Doch keiner nimmt dem Provokateur diese kleine Koketterie übel, vielmehr erwartet man von dem Enfant Terrible der Wissenschaft, das selbst in den 60er Jahren am MIT an künstlicher Intelligenz gearbeitet hat, möglichst drastische Einschätzungen. Und die gibt Weizenbaum, wie zuletzt im vergangenen Herbst an der Potsdamer FH, auch bereitwillig. Etwa, dass das Internet ein einziger „großer Misthaufen“ ist. „So wie die Müllberge vor den Toren Bombays, über die die Armen auf der Suche nach Verwertbarem ,surfen““, sagt der 83-Jährige Professor mit langem Haar und Hornbrille, der ein wenig an Einstein erinnert. Doch er schränkt seinen Fortschritts-Skeptizismus auch gleich wieder ein: „In diesem Misthaufen gibt es auch Perlen und Goldgruben.“ Schließlich sitze er selbst oft bis nachts um drei vor dem Computer, wenn er im Netz etwas entdeckt hat, das ihn fesselt.

Doch über Technologie wollte Weizenbaum eigentlich nicht sprechen, sondern an einer Filmhochschule eben über Film. Auch wenn die Mehrzahl der Zuhörer, wie Weizenbaum per Hand-Abstimmung feststellte, Informatiker waren. Weizenbaum wird immer wieder gerne eingeladen, weil es ihm gelingt, seinen äußerst kritischen Blick auf die Welt in einen geistreichen Monolog zu verpacken, gespickt mit kauzige Anekdoten und skurrilen Erinnerungen. Etwa die Geschichte von Picassos „Guernica“: Einst soll ein Besucher täglich im Museum das Bild bewundert haben. Als er eines Tages dort Picasso traf, fragte er ihn, was das Bild eigentlich bedeuten soll. „Wenn ich ihnen das sagen könnte, wäre ich Dichter oder Schriftsteller“, habe der Maler geantwortet.

Womit Weizenbaum schon am Kern seiner Überlegungen zum Film angelangt war. „Es ist ihre Aufgabe als Filmemacher, das Unsagbare irgendwie zum Ausdruck zu bringen“, rief er ins Publikum. Sein Lieblingszitat stammt von dem Dramatiker Ionesco: „Alles ist in Worten sagbar, nur nicht die lebendige Wahrheit.“ Diese Erkenntnis präge auch seine Beziehung zur Technologie. „Es ist eben nicht alles berechenbar!“, so Weizenbaum.

Er sitzt vor der großen weißen Leinwand im Kino der HFF, vor sich ein leeres Blatt Papier, das er mal verdreht, mal wieder gerade rückt, als sei es ein Manuskript. Doch es steht nichts darauf, es ist so leer wie die Leinwand. Alles entsteht im Kopf der Zuhörer. Und darum geht es. Die Vorstellung, dass die Medien oder der Film oder auch sein Vortrag dem Publikum Informationen vermitteln, sei grundlegend falsch. „Sie bekommen nur Signale, was die bedeuten, bestimmen sie selbst mit ihrer Interpretation“, sagt Weizenbaum. Gespanntes Schweigen in Saal.

Der Gelehrte nennt Beispiele. Er sitzt mit einem Kollegen im Büro und eine gut gekleidete, junge Frau kommt herein und fragt ihn, ob er damit fertig ist sich zu erinnern. Er verneint es und die vermeintliche Sekretärin bedankt sich. Sein Kollege schaut ihn fragend an. Was hat das zu bedeuten? Um das herauszubekommen, müsste er in der Lage sein, die Signale zu interpretieren, also ein Vorwissen haben. Oder: Weizenbaum steht in New York an einer Ampel. Ein alter, ärmlich wirkender Mann spricht ihn an, ob er Jude ist. Als Weizenbaum bejaht, fragt er ihn nach der Uhrzeit. Dass es drei Uhr ist, quittiert der Mann mit Dank. „Die Bedeutung, die ich diesem Gespräch gebe, hängt von meiner ganzen Lebensgeschichte ab“, erklärt der Professor.

Was das mit Film zu tun hat? Es geht um die verborgenen Bedeutungen. „Ich verlange von ihnen, dass sie eine tiefere Bedeutung in ihre Arbeiten legen“, appelliert er an den Filmnachwuchs. Noch ein Beispiel gefällig? Weizenbaum schildert die letzten Szenen des Filmklassikers „Die Brücke am Kwai“. Der Oberst betrachtet die Brücke, die er gebaut hat. Er ist stolz auf sein Werk. Bis er die Drähte entdeckt, die Brücke soll von Feindeshand gesprengt werden. Es kommt zur Schießerei, bei der der Oberst auf den Auslöser der Sprengung fällt. Er blickt gen Himmel und fragt: „Was habe ich getan?“

„Warum – das ist die Frage, die in der letzten Szene gestellt wird“, lautet Weizenbaums Deutung. Und jetzt schließt er den Kreis zu seiner kritischen Haltung. „Warum arbeiten die meisten meiner ehemalige Kollegen heute noch an Waffensystemen, die zur Massenvernichtung beistimmt sind“, fragt Weizenbaum in den Saal. Dann erzählt er von seiner Enkeltochter, ein bekannten US-Schauspielerin, die eine Rolle in einer Vorabendserie von Disney abgelehnt hat. Er sei stolz darauf, dass sie nicht bei „solch einem Dreck“ mitmachen will. Und Weizenbaum wendet sich noch einmal an sein Publikum: „Bitte gehören sie zu den fünf Prozent im Mediengewerbe, die keinen Nonsens produzieren.“ Das sagt er sehr höflich. Nein, Weizenbaum wurde nicht, wie angdroht, unhöflich. Vielleicht war er unbequem mit seinen Formulierungen von „Dreck im Fernsehen“ und „Müll im Internet“. Doch das hatte man ja von ihm erwartet.

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