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Djamal Okoko legte sein Abitur mit der Note 1,9 am Humboldt-Gymnasium in Potsdam ab, trotz einer tückischen Krankheit.

© A. Klaer

Abiturienten in Potsdam: Djamal, der Kämpfer

Seit er sechs Jahre alt ist, sitzt Djamal Okoko im Rollstuhl. Eine tückische Krankheit lässt seine Muskeln schwinden. Das Abitur hat er trotzdem gemacht – mit 1,9. Auch wenn seine Mitschüler ihn manchmal zum Unterricht am Humboldt-Gymnasium die Treppen hochtragen mussten.

Potsdam - Dunkle Wolken ziehen eilig über den Neuen Garten in Potsdam hinweg, noch regnet es nicht, die Luft ist heiß und stickig. Kaum ein Spaziergänger hat sich an diesem durchwachsenen Sommertag hierher in die Nähe des Schlosses Cecilienhof und des Marmorpalais verirrt. „Das ist mein Garten“, sagt Djamal Okoko selbstbewusst – und fährt in seinem Rollstuhl ein Stück weiter den Kiesweg entlang. Mit seiner Mutter und dem Bruder wohnt er gleich in der Nachbarschaft. Ein paar Meter, und er ist im Grünen.

Der 18-Jährige ist einer von 935 Potsdamer Schülern, die in diesem Jahr die Abiturprüfungen erfolgreich abgeschlossen haben. Er hat seines am Humboldt-Gymnasium in der Heinrich-Mann-Allee abgelegt. Die respektable Note 1,9 ist es geworden. Die Abifeier und der anschließende Ball seien toll gewesen, sagte er und seine Augen strahlen. „Das war der beste Tag seit Langem. Das war so geil.“ Morgens die Zeugnisvergabe, nachmittags Eis essen mit Familie und Freunden, dann am Abend in der Metropolishalle die Party. „Es gab erst Sekt, dann einige Reden und ein Buffet.“ Ab 22 Uhr sei dann getanzt worden. Er mittendrin, im Takt mit dem Rollstuhl. „Ich weiß nicht, wie das für andere aussieht, aber für mich war es gut so. Und die anderen haben mich angefeuert“, schwärmt Djamal von dem Abend. Negativ sei nur der Schluss gewesen. Gegen 2 Uhr sei ihm einfach sein Drink „Sex on the Beach“ weggenommen worden.

Abi-Prüfungen auf besondere Art herausfordernd

Die Abiprüfungen sind wohl für die meisten Schüler eine Herausforderung. Auch für Djamal. Auf besondere Art. Er sitzt seit seiner frühesten Kindheit im Rollstuhl. Als bei ihm die sehr seltene Krankheit spinale Muskelatrophie diagnostiziert wurde, war er zwei Jahre alt. Die Krankheit verursacht Muskelschwund, der durch einen fortschreitenden Zerfall von motorischen Nervenzellen verursacht wird. Impulse werden nicht mehr an die Muskeln weitergeleitet, Lähmungen und verminderte Muskelspannung sind die Folge.

„Am Anfang ging es eigentlich, dann wurde es immer weniger“, sagt der schmächtige Djamal. Mit der Zeit seien dann typische Rollstuhlfahrerprobleme aufgetreten, Hüftschmerzen und ähnliches. Schon mit sechs, kurz nach der Einschulung, waren die Muskeln zu schwach, als dass er hätte laufen können. „Aber man kann sie aufbauen und halten, man muss nur viel trainieren.“

Djamal ist in Potsdam geboren und aufgewachsen, sein Vater stammt aus Brazzaville in der Republik Kongo und kam noch vor der politischen Wende nach Deutschland. „Im Rahmen einer Ausbildung oder so.“ Jetzt leben Vater und Mutter getrennt in Potsdam, sein Vater hat eine neue Familie gegründet, Djamal hat drei Halbgeschwister. Ob er seinen Vater noch oft sieht? „Ja, fast jeden zweiten Tag, wir haben ein gutes Verhältnis“, sagt er und ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Seine Mutter und sein Vater kümmerten sich gemeinsam sehr um ihn, wie er betont. Das ist ihm wichtig.

Große Pläne nach dem Abitur

Der frischgebackene Abiturient wirkt auf den ersten Blick schüchtern und zurückhaltend. Aktuell bringt Djamal nur rund 40 Kilogramm auf die Waage, die Krankheit zehrt an ihm. Und doch hat er große Pläne, die Hochschulreife ist da nur eine Etappe. „Früher wollte ich Autodesigner werden. Naja, mittlerweile ist es eher Produktdesigner. Da ist die Auswahl größer“, sagt er selbstbewusst und nestelt an seiner Sonnenbrille. „Das ist wegen meiner Coolness“, sagt er, um sich dann zu korrigieren: Er sei relativ lichtempfindlich. Das hänge aber nicht mit seiner Krankheit zusammen.

Vielleicht mache er in Zukunft auch etwas ganz anderes. Fotografieren sei eines seiner Hobbys, „das würde mir Spaß machen“. Neben dem Texten und der Musik. Er spielt Klavier und Keyboard und war zeitweise auch in der Schulband. Wie es jetzt, direkt nach dem Abi weitergeht? „Oh, erst mal nichts machen, erholen. Das war schon sehr anstrengend für mich.“ Eine Reise? Ja, in den kommenden Wochen, erst mit der Mutter an den Chiemsee und dann noch mal zwei Wochen mit der Familie des Vaters nach Dänemark.

Kapitulieren, aufgeben, klein beigeben, das ist nicht sein Ding. Das fing schon bei der Einschulung an. Gemeinsam mit seinen Eltern habe er damals überlegt, an welche Grundschule in Potsdam er gehen soll. Die Oberlin-Schule sei für ihn aber nicht infrage gekommen. „Das wollte ich nicht. Ich wollte nicht nur unter anderen behinderten Menschen sein. Meine Eltern haben mich darin bestärkt.“ Dann sei er schließlich an die Evangelische Grundschule in der Weinmeisterstraße gekommen. „Da habe ich mich sofort wohl gefühlt.“

Kein Gymnasium in Potsdam ist wirklich behindertengerecht

Richtig schwierig wurde es dann aber, als es darum ging, eine weiterführende Schule zu besuchen. 2009 war das, als er feststellen musste, dass kein Gymnasium in der Landeshauptstadt wirklich behindertengerecht ausgestattet ist. Weder an staatlichen noch an freien Gymnasien in Potsdam hatten damals Schüler mit Behinderungen ein komplett barrierefreies Umfeld, das ihnen die Integration in den Schulalltag ermöglicht. Seine Mutter Katrin Lehnert, selbst Pädagogin an einer Schule in Berlin, erntete nur Absagen bei der Suche nach einer Schule für ihren Sohn. Auch auf Hermannswerder, wo Djamal am liebsten das Evangelische Gymnasium der Hoffbauer-Stiftung besucht hätte, gab es nur ein bedauerndes Kopfschütteln. Alle seine Freunde seien auf Hermannnswerder zur Schule gegangen, so Djamal. „Dort gibt es keinen Aufzug“, sagte er. Der fehle auch heute noch. „Das geht gar nicht.“ Schließlich schaffte es die Familie, Djamal auf dem Humboldt-Gymnasium unterzubringen – obwohl auch diese Schule nicht komplett barrierefrei ist. So gebe es noch jetzt Türen, die keinen Öffnungsknopf hätten. „Aber die Schule hatte immerhin einen Fahrstuhl.“

Den Aufnahmetest bestand er, an das erste Gespräch mit der Schulleiterin des Humboldt-Gymnasiums Carola Gnadt kann er sich noch gut erinnern. Sie habe ihm gesagt, dass es keine Sonderregeln gebe, dass er genauso die Leistung bringen müsse wie jeder andere Schüler auch, so Djamal. „Das war aber gut so.“ Er wolle nicht anders behandelt werden als andere. „Der Rollstuhl spielt keine Rolle.“ Das bestätigt auch Schulleiterin Gnadt. Djamal sei ein guter Schüler, sagt sie. Er habe sich gut integriert in das Klassensystem und habe viele Freunde, die ihm geholfen hätten. Aber es sei manchmal schon schwer für ihn gewesen. Vor allem im künstlerischen Bereich sei er enorm talentiert. „Er wäre wohl der erste Kameramann im Rollstuhl“, so Gnadt. Sie könne sich gut vorstellen, dass er seine Leidenschaft für die Fotografie zu seinem Beruf mache.

Schwierigkeiten mit anderen Schülern gab es für ihn an der Schule nicht, sagt Djamal – aber Barrieren, die überwunden werden mussten. Wenn der Unterricht etwa in den oberen Stockwerken stattfinden sollte, sei er gelegentlich von seinen Freunden auch schon mal hochgetragen worden. „Meine Kumpels haben mich immer unterstützt. Das sind ganz normale Jungs und extrem gute Freunde.“

Was ihn ärgert: seine erzwungene Unselbstständigkeit

Als Jugendlicher im Rollstuhl, während andere Fußball spielen oder erste Kontakte mit dem anderen Geschlecht haben? Das sei schon okay, sagt Djamal. Was ihn ärgert, ist seine erzwungene Unselbstständigkeit. Wie etwa bei einem Probe-Feueralarm. Dann würden alle rausrennen, er müsse runtergetragen werden. Meistens hätten seine Freunde das übernommen. Aber wenn mal keine da sind? Eine Feuertür etwa könne er nicht alleine öffnen. Er wolle sich frei bewegen, unabhängig sein. „Das ist das oberste Ziel.“ Ärgerlich für ihn war zum Beispiel, dass er ständig mit dem Fahrdienst von der Schule abgeholt und zunächst nach Hause gebracht wurde, während die anderen im Sommer direkt nach dem Unterricht etwa auf die Freundschaftsinsel gegangen sind. „Da habe ich schon einiges verpasst. Meistens bin ich aber mitgenommen worden, auch zum Grillen an den Strand oder so.“

Ohnehin ist es in Potsdam gar nicht so leicht, sich mit einem Rollstuhl unabhängig zu bewegen. Das viele Kopfsteinpflaster, etwa im Holländischen Viertel, ist ein Hindernis. Dabei könne er verstehen, dass es wegen des Denkmalschutzes bleiben müsse, sagt der 18-Jährige. Auch die Tram-Haltestellen seien für ihn oftmals schwierig. Oder die komplett modernisierte Stadt- und Landesbibliothek: Dort gebe es Spiegel in den Behindertentoiletten, die aber in normaler Höhe angebracht seien – Djamal kann sich dort nicht sehen. Ganz aktuell verfolge er auch die Diskussion um den schwierigen Zugang zu einem Hublift an der neu gestalteten Alten Fahrt, mit dem Behinderte eine Treppe zur Havel überwinden können sollen. Das sei schon unglücklich gelaufen, sagt Djamal diplomatisch. Immerhin: Einen sogenannten Euro-WC-Schlüssel für Behindertentoiletten, mit dem auch der Lift bedient werden kann, den besitzt er.

Gibt es Kontakt und Freundschaften zu anderen Menschen mit einem Handicap? Nein, sagt Djamal. „Ich habe nie danach Ausschau gehalten.“ Es habe auch nie die Motivation dafür gegeben. „Aber ich würde auch nicht nein sagen, wenn es sich ergäbe.“ Und wie sieht es mit Mädchen aus? Das ist wohl eher kein einfaches Thema, er sei derzeit Single, sagt er nur.

Ideen für die Zeit nach dem Abitur

Was kommt nun, nach dem schönsten Tag seit Langem, an dem Djamal Okoko sein bestandenes Abitur feierte? Da unterscheiden sich seine Pläne nicht sehr von denen all jener Abiturienten, die auf zwei Beinen durchs Leben gehen können.

Er habe da schon einige Ideen, sagt er: Viel in den Neuen Garten gehen und sich mit Freunden treffen, viel fotografieren und schreiben – man müsse auch mal schließlich die „Kapazitäten im Gehirn“ nutzen. „Und für den Winter, wenn es draußen eklig ist, werde ich mir ein Praktikum suchen.“ Es bleibt dabei: Klein beigeben, aufgeben, das ist nicht Djamals Ding.

Exklusiv: 

Das Porträt über Djamal Okoko erschien zuerst in der Abitur-Beilage der PNN am 9. Juli, die wir den etwa 1000 Abiturienten in Potsdam, Werder, Teltow, Kleinmachnow und Beelitz widmeten. Hier gibt es die Abi-Beilage 2016 mit den Namen aller Absolventen als PDF >>

Stefan Engelbrecht

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