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Unterm Schutzschirm. Die Finanz- und Eurokrise hat die europäischen Staaten herausgefordert und eine Reihe von Schutzmaßnahmen ins Leben gerufen.

© dapd

Homepage: Die normale Krise

Potsdamer Zeithistoriker leiten den Leibniz-Forschungsverbund zu „Krisen in einer globalisierten Welt“

Am 22. August 1966 titelte der „Spiegel“: „Wirtschaftskrise in Deutschland?“ Wer heute von Wirtschaftskrisen im Nachkriegsdeutschland spricht, der denkt – abgesehen von der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007 – vor allem an die beiden Ölkrisen 1973 und 1979. Die Krise von 1966/67 gilt allenfalls als kleine Konjunkturdelle. Doch seinerzeit wurde dieser Einschnitt als bedrohlich empfunden. Wobei die Wechselwirkung von Medien, Politik und Öffentlichkeit offenbar eine hervorgehobene Rolle im Krisengeschehen gespielt hat. Die historische Analyse belegt nun, dass es sich bei Krisen generell immer auch um eine Konstruktion von Wahrnehmung handelt, wenngleich sie sich auf reale Veränderungen bezieht.

Kristoffer Klammer von der Universität Bielefeld wird zur öffentlichen Konstruktion von Wirtschaftskrisen eine Doktorarbeit verfassen. Seine These dazu hat er nun zum jährlichen Doktorandenforum des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) vorgestellt. Dass diesmal das Thema „Krisen als Normalität“ im Mittelpunkt stand, kommt nicht von ungefähr. Das ZZF arbeitet leitend in einem Forschungsverbund der Leibniz-Gemeinschaft zu „Krisen in einer globalisierten Welt“. ZZF-Ko-Direktor Frank Bösch hatte im Vorjahr erst eine Konferenz zu den Ölkrisen der 1970er-Jahre organisiert. Anhand der Wirtschaftskrise von 1973 könne man exemplarisch sehen, wie zunächst die Medien das Thema aufbringen, während die Politik anfänglich noch zurückhaltend gewesen sei, so Bösch. „Durch den Krisendiskurs wurde dann auch die Regierung gedrängt, zu handeln.“

Krisen gehen meist auf reale Wirtschafts- oder Problemlagen zurück. Aber zunächst handelt es sich oft auch um ein Phänomen der Wahrnehmung. Ab wann beginnt die Krise, ab 5, 10 oder 20 Prozent Inflationsrate? Kristof Klammer arbeitete heraus, dass Wirtschaftskrisen nicht ausschließlich, aber doch auch maßgeblich durch Diskurse erzeugt werden. Vor dem Hintergrund einer bestehenden Problematik finde eine Zuschreibung statt. Hintergrund davon sind nicht selten auch historische Bezüge. So zeigte Carolin Phillip (Kassel/Athen), dass die politischen Aktivisten, die heute in Griechenland gegen die Regierung und die EU protestieren, auf den Befreiungskampf der Griechen gegen die Deutschen im Zweiten Weltkrieg und auf Analogien zur Weimarer Republik zurückgreifen.

Der Blick in die Geschichte zeigt auch, dass Krisen oft dazu führen, dass sich Gesellschaften neu erfinden. So führte die Wahrnehmung einer Krise der deutschen Geschichtsmuseen in den 1970er-Jahren dazu, dass sich, wie Julia Roos (Bamberg) zeigte, viele Museen mit ganz neuen Darstellungsformen inszenierten und plötzlich gewaltigen Zulauf hatten. Die Krise wirkt hier als Moment der Erneuerung, auch sinnerzeugend und bisweilen sogar die Gesellschaft stabilisierend. „Die Krise ist eine Stabilisierung, weil etwas, das als chaotisch erscheint, in eine Geschichte eingepasst wird“, erklärt Bösch. Es werde eine Erzählung geschaffen, die die Gesellschaft braucht. Daher sprechen Wirtschaftshistoriker auch von der reinigenden Kraft der Krisen – sozusagen als notwendige Korrektur eines Problems. „Wenn etwas nicht als Krise öffentlich benannt wird, wie es längere Zeit in der DDR der Fall war, werden auch keine Korrekturkräfte freigesetzt, die Handlungsdruck erzeugen. Insofern ist eine Krise letztendlich oft notwendig“, meint Bösch. Dass die DDR dann schließlich doch zusammenbrach, sei nur ein weiteres Indiz für die erneuernden Kräfte der Krisen – wenn auch in diesem Fall zeitverzögert.

Ein interessantes Beispiel für die kreativen Potenziale, die Krisen hervorbringen können, präsentierte Jonathan Voges (Hannover) auf dem Potsdamer Doktorandenforum. Er bringt den Do-it-yourself-Boom der 1970er-Jahre in Westdeutschland mit den Krisenerscheinungen dieser Zeit in Verbindung. Entgegen dem Trend einer allgemeinen Krise des Einzelhandels registrierte die Heimwerkerbranche damals jährliche Zuwachsraten von 15 bis 20 Prozent. Voges These: Aus einer ökonomischen Krise heraus wurden verstärkt Dinge selbst hergestellt, woraus dann wiederum etwas ganz neues Ökonomisches entstanden ist – der Boom der Baumärkte.

Dass die 1970er- und -80er Jahre im Westen Deutschlands eine Zeit mit großem Krisenbewusstsein waren, zeigte Steffen Henne (Marburg), der den Diskurs der Intellektuellen untersuchte. Bereits vor Francis Fukuyamas Diktum vom „Ende der Geschichte“ (1992) sei in der BRD das historische Bewusstsein in eine Krisenwahrnehmung geraten. Philosophen und Denker hätten sich zunehmend schwerer vorstellen können, welche Veränderungen für die Gesellschaft überhaupt noch möglich sind. Henne spricht von einer Erosion zeitgenössischer Welt- und Selbstverhältnisse, die seit den 70er-Jahren durch eine Vielzahl von krisenhaften Ereignissen ausgelöst wurden.

Hintergründe für diese pessimistische Sicht waren unter anderem die atomare Nachrüstung, Umweltverschmutzung und -katastrophen oder die Öl- und Wirtschaftskrisen. Der Fortschrittsglaube habe dadurch erheblich an Schwung verloren, das Gefühl des zeitlichen Stillstands habe sich breitgemacht. So habe zum Beispiel die Entwicklung der Neutronenbombe den Eindruck erweckt, dass der Fortschritt sich von den Wünschen und Hoffnungen der Menschen gelöst habe.

Ein erstes Fazit der historischen Betrachtungen könnte lauten, dass Krisen nicht per se für Untergang stehen. „Sie gelten auch als Moment der Entscheidung in einer Phase der offenen Zukunft“, sagt Bösch. „Als Wahrnehmung eines Umbruchs, der Entscheidungen abverlangt.“ Krisen seien daher für Gesellschaften notwendig. Nicht immer folgen aber positive Weichenstellungen auf Krisen. Bösch nennt als Beispiel die Weimarer Republik, in der bestimmte Entscheidungen zur Deflationspolitik ergriffen wurden, die dann fatale Auswirkungen hatten.

Wird eine Krise ausgemacht, folgen meist umfassende Reformen, etwa in jüngster Vergangenheit bei der Energiekrise oder nach Umweltkatastrophen wie dem Seveso-Chemieunfall 1976. Und obwohl Krisen meist überraschend eintreten, würden sie in modernen Gesellschaften immer bereits mitgedacht und vorbereitet, auch durch Krisenstäbe, die nötige Maßnahmen einüben. „Die tatsächliche Krise hat dann etwas Besonderes und fordert die Gesellschaft immer wieder neu heraus, ähnlich wie es Skandale tun“, sagt Bösch.

Auf dem Cover des Supertramp-Albums aus dem Jahre 1975 sieht man einen Mann in Badehose in einem Liegestuhl sitzen, der Sonnenschirm ist aufgespannt, von Sonne aber keine Spur. Rings um ihn herum rauchen die Schlote einer grauen Industriebrache. „Crisis? What Crisis?“, so der Titel des Albums. Welche Krise also? Keine Sorge, der Blick zurück zeigt, dass die nächste Krise bestimmt kommt.

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