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Enttäuscht. Unter Merkel hat sich nach Meinung von Britta Voland (links) und ihrer Tochter Romy Ibe wenig verbessert bei der sozialen Gerechtigkeit. Beide wollen die Linke wählen und wünschen sich eine rot-rote oder rot-rot-grüne Koalition.

© Ronny Budweth

Landeshauptstadt: Die Gerechtigkeit kommt zu kurz

Wählerin Romy Ibe und ihre Mutter müssen aufs Geld schauen. Armut, Löhne und Mieten sollten im Wahlkampf wichtiger sein

Potsdam - Wenn man Romy Ibe fragt, was schief läuft, holt sie tief Luft. „Wo soll ich anfangen?“ Das größte Problem seien die Löhne, „die steigen nie“, auf der anderen Seite werde alles immer teurer: Mieten, Lebensmittel, Kinderbetreuung. „Es macht mich traurig, dass ich in Potsdam immer mehr ältere Leute sehe, die die Mülleimer durchsuchen“, sagt die 30-Jährige in ihrer Wohnung am Schlaatz. Ihre Mutter, Britta Voland, ist auch dabei. Armut und soziale Gerechtigkeit sind für beide die Hauptthemen im Hinblick auf die Bundestagswahl am Sonntag. Doch im Wahlkampf kämen diese viel zu kurz.

Arm ist Romy Ibe nicht, doch sie und ihre Familie müssten Monat für Monat rechnen. Ibe ist Assistentin in einem Labor im St.-Josefs-Krankenhaus, sie arbeitet Vollzeit im Schichtdienst. Mal tagsüber, das gehe noch, oft aber auch die ganze Nacht. Ganz schlecht ist der Lohn nicht, aber wenn sie in Berlin arbeiten würde, könnte sie 400 oder 500 Euro mehr verdienen. „Das ist ungerecht und unverständlich“, so die 30-Jährige.

Ihr Mann Anthony Ibe stammt aus Nigeria, seit mehr als zehn Jahren ist er in Deutschland und hat inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft. Einen Ausbildungsplatz habe er nicht bekommen, überhaupt sei es schwer für ihn, einen guten Job zu finden. Er arbeitet jede Woche 30 Stunden bei Burger King, im Lieferdienst und in der Küche, ebenfalls in Schichten. Damit es für das Paar und die beiden Kinder reiche, so die 30-Jährige, komme dazu in der Regel noch ein Minijob. Wie viel genau jeder von ihnen verdient, will Ibe nicht in der Zeitung lesen. Beide Partner zusammen kommen auf rund 3000 Euro netto im Monat – das sei knapp.

„Mein Mann übernimmt das Einkaufen, er nimmt immer nur die Billigprodukte, die Angebote, damit der Wocheneinkauf nicht zu teuer wird“, erzählt Ibe. Denn die Mieten würden teurer, dazu kommen knapp 200 Euro monatlich für Kita und Hort, auch die Familie des Mannes in Nigeria unterstützen sie regelmäßig. Immer wieder müsse sie ihren Kindern Wünsche verwehren. „Sie fragen immer, ’Mama, darf ich das?’, und ich muss nein sagen.“ Nein zum Kino, nein zum teureren Käse, nein zu den ersehnten Leuchtschuhen. Geld sei ständig ein Thema – und Zeit. Denn zwischen den versetzten Schichten bleibe kaum Zeit für die Familie, für die zehnjährige Jessica und den vierjährigen Anthony.

Was die Politik tun könne? Ibe fällt einiges ein, der Staat spielt dabei eine wichtige Rolle. „Es sollte einen staatlich kontrollierten Mietspiegel geben.“ Am liebsten wäre es ihr, wenn Wohnungen überhaupt nicht mehr in Privatbesitz wären, sondern nur noch in staatlicher Hand. Dann könnten die Mieten auch sozial und gerecht gestaltet werden. Außerdem wünscht sie sich einen höheren Mindestlohn, vielleicht auch pro Berufsgruppe. Kinderbetreuung in Kita und Hort sähe sie gern komplett kostenfrei. Die Überlegungen in Potsdam und Brandenburg in diese Richtung findet Ibe richtig, aber nicht ausreichend.

Ganz wichtig ist ihr, das hat sie sich vorher extra auf einem Spickzettel notiert, der Zugang für Geringverdiener zur Kultur, wie ihn beispielsweise der Verein Kultür ermögliche. „Die Stadt und der Staat sollte Bildung und Kultur für alle noch stärker fördern.“ Denn das sei ein wichtiger Baustein für echte Gleichberechtigung. Sie selbst engagiert sich deshalb bei der afro-europäischen Initiative Global Kids in Potsdam, die beim Toleranzfest ein nigerianisches Musical aufgeführt hat.

Zwar setze sie nicht mehr viel Hoffnung in die Politik, die habe sie zu oft enttäuscht, aber wählen gehe sie trotzdem. „Natürlich die Linke, vielleicht eine Stimme SPD.“ Sie habe sich nur das Wahlprogramm der Linken im Detail angeschaut. Ihre Wunschkoalition: Rot-Rot, oder Rot-Rot-Grün. „Ein bisschen was für die Natur“ wäre ja auch nicht schlecht. Einmal habe sie die CDU gewählt, wegen des C, denn sie ist katholisch. Aber Ibe winkt ab: „Als Angela Merkel im TV-Duell eine Kooperation mit den Linken ausgeschlossen hat, da war es vorbei.“ Überhaupt habe sich kaum etwas verbessert unter Merkel.

Für Ibes Mutter Britta Voland ist auch das Thema Rente zentral. Sie ist 57, arbeitet bei der Post. Dort sortiert sie im Schichtdienst Briefe. Ihr Mann kann nicht mehr arbeiten, er bezieht eine Erwerbsminderungsrente, kombiniert mit Hartz IV. Der Lohn von Voland wird damit verrechnet. Die Rente mit 67 hat sie als echten Schlag in die Magengrube empfunden. „Ich hatte nach 45 Beitragsjahren auf das Ziel 65 hingearbeitet“, so Voland. Jetzt müsse sie zwei Jahre länger, „nicht gerade angenehm prickelnd“. Wenn sie erzählt, schwingt eine gewisse DDR-Nostalgie mit. Darauf angesprochen sagt die gelernte Restaurantfachfrau: „Ich will nicht alles aus der DDR wiederhaben, aber die soziale Sicherheit hätte ich gerne zurück.“ Heute sei sich jeder selbst der Nächste, der Zusammenhalt habe abgenommen. Deshalb weiß auch Voland schon sicher, wo sie ihr Kreuzchen setzen wird: „Ich bin mit der SED groß geworden, mit der PDS marschiert, heute wähle ich die Linke.“

Immerhin, eines habe sich in den letzten Jahren deutlich verbessert: Potsdam sei toleranter geworden. „Früher wurden mein Mann und ich in der Straßenbahn immer komisch angeschaut, es gab viele rassistische Bemerkungen, das ist besser geworden“, so Ibe. Als Grund sieht sie die Flüchtlinge, die das Stadtbild gewandelt und auch in den Köpfen etwas geändert hätten. Aber auch die Initiative „Potsdam bekennt Farbe“ mit dem Toleranzfest und den engagierten Mitgliedern habe etwas bewegt.

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