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Homepage: Der Opfer besinnen

Ein Projekt am Zentrum für Zeithistorische Forschung rückt die Opfer der Berliner Mauer ins Blickfeld

Ein Projekt am Zentrum für Zeithistorische Forschung rückt die Opfer der Berliner Mauer ins Blickfeld Von Jan Kixmüller In der Nacht vom 4. November 1975 stieg der Lehrling Lothar Hennig an der Brücke Schiffsgraben in Sacrow aus dem Bus. „Keine planmäßige Haltestelle“ vermerkt der Bericht der DDR-Grenztruppen, der mit „Vertrauliche Verschlußsache!“ überschrieben ist. Der damals 21-jährige Lothar Hennig war der einzige Fahrgast im Bus. Nach der Abfahrt des Busses habe er die Staatsgrenze beobachtet, so der Bericht. Ein Grenzposten sah ihn dabei. Dann lief der junge Mann im Laufschritt in Richtung Weinmeisterstraße, wo er wohnte. Als er von einem Grenzsoldaten aufgefordert wurde, stehen zu bleiben, lief er weiter. Der Gefreite Olaf L. eröffnete das Feuer. Lothar Hennig erlitt einen Lungendurchschuss und starb auf dem Weg ins Armeelazarett Drewitz. Ein Fall von 244. Historiker des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) gehen zur Zeit den Todsfällen an der Berliner Mauer nach. 44 Jahre nach dem Bau der Mauer rückt ein gemeinsames Forschungsprojekt des ZZF und des Dokumentationszentrums Berliner Mauer die Opfer des Grenzregimes in den Blickpunkt. Nach Zahlen des ZZF gelten 138 Todesfälle an der Berliner Mauer von 1961 bis 1989 als gesichert, weitere 106 Verdachtsfälle werden in den kommenden zwei Jahren von den Historikern überprüft. Kulturstaatsministerin Christina Weiss gab für das Projekt 260 000 Euro. Im Ministerium für Staatssicherheit der DDR wurde keine vollständige Liste über die Mauertoten geführt, die unklare Zahlenlage wollen die Historiker nun klären. Doch es gehe nicht um „ein Buhlen um die richtige Gesamtopferzahl“, wie ZZF-Direktor Martin Sabrow betont. Vielmehr will man die Biografien der Opfer in den Mittelpunkt der Gedenkkultur rücken. Um die Opfer aus der Anonymität zu holen und vor dem Vergessen zu bewahren, recherchiert man nun ihre Lebensläufe, Fluchtmotive und Umstände ihres Todes. Während die spektakulären Fälle der Jahre 1961/62 in Berlin, etwa der von Peter Fechter, weitgehend bekannt sind, blieben zahlreiche Schicksale von Mauertoten bislang unbekannt. Die Erinnerung an die Opfer sei wichtig, damit sie nicht ein zweites Mal sterben, formulierte in diesem Zusammenhang Manfred Fischer von der Evangelischen Kirche. Die Ergebnisse der Forschungsarbeit sollen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Schon jetzt sind die Kurzbiographien von über 100 Opfern im Internet zu finden. Schließlich sollen die Opfer der Mauer in einem Totenbuch gewürdigt werden. Lothar Hennig war kein typisches Maueropfer. Augenscheinlich hatte er nicht vor, in den Westen zu fliehen. Warum er die Aufforderung stehen zu bleiben ignorierte, ist nicht bekannt. Der Bericht vermerkt nur, dass der junge Mann unter Alkoholeinfluss stand. Bei der Einfahrt ins Grenzgebiet war er wie üblich kontrolliert worden, berichtet Christine Brecht, wissenschaftliche Mitarbeiterin des ZZF. Dass zu dieser Zeit in dem Gebiet eine Fahndungsaktion stattfand, konnte er nicht wissen. „Lothar Hennig wurde nach unserem Wissen versehentlich für einen Flüchtling gehalten“, schließt Christine Brecht aus den Fakten. An diesem, bis zur Wende im Westen nicht bekannten Fall, werde deutlich, dass nicht nur für Flüchtlinge von dem Grenzregime eine Gefahr ausging. Das Verhalten des Grenzsoldaten wurde im Anschluss von der Staatsmacht legitimiert: Die Anwendung der Schusswaffe sei gerechtfertigt gewesen. Wieso erst nun, 15 Jahre nach dem Fall der Mauer der Blick der Öffentlichkeit und auch der Forschung auf die Opfer des Grenzregimes fällt, können auch die Historiker nicht eindeutig beantworten. ZZF-Direktor Sabrow spricht von einem „Perspektivenwechsel“. „Nachdem wir 1989 die Mauer physisch und mental abgetragen haben, besinnen wir uns erst heute auf die Menschen, die an ihr zu Tode kamen“. Ein normaler Vorgang, so der Historiker, es brauche immer Zeit und Abstand bis man „das Monströse“ an sich heranlassen könne. Die Mauer ist für die Forscher ein klassischer Täter-Opfer-Ort. „Überraschend, dass diesem Ort bislang so wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde“, sagt Sabrow, sicherlich auch mit Blick auf die Streitereien um Mauer-Gedenkstätten in Berlin. Die Arbeit der Historiker soll den geschichtsträchtigen Ort zwischen Potsdam, Pankow und Mahlow in das öffentliche Bewusstsein zurück holen. Nach Abschluss der Mauerschützenprozesse, bei denen in den 90er Jahren die Täter im Mittelpunkt standen, ergibt sich für die Historiker nun ein einmaliger Quellenzugang: Die Akten können für die Zeitgeschichte ausgewertet werden. Hinzu kommen Interviews mit Zeitzeugen und Angehörigen der Opfer. So soll auch die notwendige Differenzierung möglich werden, zwischen Mauertoten, die bei der Flucht umkamen und den anderen Todesfällen, die sich im näheren Umfeld der Mauer ereigneten. Es gab eben auch Opfer wie Lothar Hennig, die ohne Fluchtversuch durch das Handeln der staatlichen Organe der DDR zu Tode kamen. Und nicht zuletzt kamen auch Grenzsoldaten an der Mauer ums Leben. In vielen Fällen hätte das Leben der Opfer wohl auch gerettet werden können. Hans Herrmann Hertle vom ZZF schätzt, dass von den rund 100 gesicherten Fällen allein fünf bis zehn auf „Exzesstötungen“ zurückzuführen sind. Etwa Willi Block, der am 7. Februar 1966 nahe der Grenzübergangsstelle Staaken erschossen wurde. Die Grenzsoldaten entdeckten den Flüchtling, als er sich im Stacheldraht verfangen hatte. Der Aufforderung zurückzukehren konnte Block daher nicht nachkommen. Der an die Fluchtstelle geeilte Kommandeur des 34. NVA-Grenzregiments gab zuerst mit seiner Pistole einige Schüsse auf den im Stacheldraht festhängenden Flüchtling ab. Dann nahm er seinem Fahrer die Maschinenpistole ab und feuerte mehrere Salven. Die Schüsse zerfetzten Willi Block die Lunge, er war tödlich getroffen. Am 25. April 1997 wurde der Kommandeur rechtskräftig wegen Totschlags im minderschweren Fall zu einer Haftstrafe von drei Jahren verurteilt. Oder der Fall Walter Kittel. Der NVA-Unteroffizier und Stasi-Spitzel Rolf-Dieter H. erschoss den Flüchtling am 18. Oktober 1965 an den Grenzsperranlagen in Kleinmachnow. Während er das Magazin seiner Waffe leer schoss soll er gerufen haben: „Ich habe mit geschworen, hier kommt keiner mehr lebend raus!“ 1993 wird der Täter wegen Mordes zu zehn Jahren Haft verurteilt. Der Fall des Hans-Peter Hauptmann wiederum macht ähnlich wie der von Lothar Hennig deutlich, wie gefährlich das Leben auch für die Anwohner des Grenzgebietes war. Nachdem der junge Mann nach einem Umtrunk zwei Bekannte vor seinem Haus verabschiedet hatte, wurden diese am nah gelegenen Grenzposten verhaftet. Hauptmann mischte sich ein und wurde ebenfalls verhaftet. Als er zu seinem Haus zurückkehren wollte, drohte der Postenführer zu schießen. Der junge Mann kehrte zurück, griff nach der Waffe des Grenzpostens und wurde im Handgemenge von sechs Schüssen niedergestreckt. Zehn Tage später erlag er seinen Verletzungen. Das von ZZF-Direktor Sabrow angesprochene „Monströse“ offenbarte sich auch im Umgang mit den Angehörigen der Opfer. Sie wurden meist erst mit Verzögerung von den Todesfällen benachrichtigt. Ihnen wurden die Urnen mit der Asche der Verstorbenen zugeschickt, bisweilen auch per Post. Sie mussten sich zu Stillschweigen über die Umstände der Todesfälle verpflichten, während die Grenzposten in vielen Fällen für „vorbildliches Verhalten“ und „ausgezeichnete Dienstführung“ belobigt wurden. Schließlich war die Mauer auch für West-Berliner nicht ungefährlich. Am 15. Juni 1965 geriet der West-Berliner Kaufmann Hermann Döbler und die Serviererin Elke Märtens mit einem Sportboot auf dem Teltowkanal in Nähe des Kontrollpunktes Dreilinden in DDR-Grenzgewässer. Obwohl es ihnen nach Warnschüssen gelungen war, das Boot zu wenden, wurde das Feuer auf sie eröffnet. Hermann Döbler kam dabei zu Tode, Elke Märtens überlebte schwerbehindert. Tragisch schließlich auch der Fall des kleinen Cengiz Koc, der neunjährige türkische Schüler fiel am 13. Oktober 1972 beim Entenfüttern in Kreuzberg in die Spree. Spontan wurde ihm weder von West- noch von Ost-Seite geholfen. Als die West-Berliner Feuerwehr eintraf, wurde ihr von östlicher Seite jegliches Eingreifen verboten. Erst eineinhalb Stunden später bargen NVA-Taucher die Leiche des kleinen Cengiz. Im Internet: www.chronik-der- mauer.de/index.php/opfer/

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