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Klimawandel am Polarmeer: Abrutschende Altlasten

Potsdamer Polarforscher haben herausgefunden, dass das Abtauen des Permafrostbodens in der Arktis weitreichende Folgen für das Ökosystem und die Menschen hat. Sie fordern nun ein spezielles Forschungsprogramm.

Potsdam - Wenn der Potsdamer Geowissenschaftler Michael Fritz im Winter Proben holt, ist das Meerwasser in den Fläschchen glasklar. Im Sommer hingegen, wenn die Eisschollen der Beaufortsee rund um die nordkanadische Permafrostinsel Herschel Island geschmolzen sind, ist das Wasser in den Probefläschchen eine trübe Brühe. Durch die Erderwärmung bröckelt die einst auch im Sommer gefrorene Küste der Arktis langsam ab. Herschel Island verliert pro Jahr bis zu 22 Meter seiner Steilküste, berichtet der Polarforscher. „Der aufgetaute Permafrostboden rutscht dann in Form von Schlammlawinen ins Meer und trübt die umgebenden Flachwasserbereiche so großflächig ein, dass die braun-grauen Sedimentfahnen viele Kilometer weit ins Meer hineinreichen“, so Fritz, der Wissenschaftler an der Potsdamer Forschungsstelle des Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) ist.

Durch den Zerfall der Küste ändert sich das Leben im Meer

Wo die arktische Küste zerfällt, verändert sich das Leben im Meer. Doch welche ökologischen Folgen die zunehmenden Küstenerosion in der Arktis für das Leben in der Küstenzone und somit auch für Fischgründe hat, ist noch weitgehend unerforscht. Wissenschaftler des AWI, unter ihnen auch Michael Fritz, rufen deshalb in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift „Nature Climate Change“ dazu auf, die ökologischen Folgen der Küstenerosion in den Fokus zu rücken. Denn das Auftauen und die Erosion der arktischen Permafrostküsten hat in den zurückliegenden Jahren drastisch zugenommen. Die dabei abgetragenen Erdmassen trüben zunehmend die Flachwasserbereiche und setzen Nähr- und Schadstoffe frei.

Der Hans-Wolfgang Hubberten, Leiter der Sektion Periglazialforschung am Potsdamer AWI, hatte bereits im Vorjahr die Lage als alarmierend bezeichnet. Die arktischen Permafrostgebiete gehören zu jenen Regionen der Welt, in denen die Folgen des Klimawandels am deutlichsten zu spüren sind: Die seit Jahrhunderten dauerhaft gefrorenen Böden tauen vielerorts aufgrund der globalen Erwärmung auf. Mittlerweile sei klar, dass sich der Permafrost auch in Tiefen bis zu 30 Metern erwärmt. In den vergangenen 30 bis 40 Jahren habe es im Boden eine Erwärmung von rund 1,5 Grad Celsius gegeben. „Die Erwärmung der Luft wirkt sich direkt aus“, so Hubberten.

Neben Treibhausgasen werden auch große Mengen an Schadstoffen wie Phosphor und Quecksilber frei

Die Beobachtungen der Polarforscher auf Herschel Island würden sich nach deren Worten inzwischen auf weite Teile der Arktis übertragen lassen. 34 Prozent der Küsten weltweit sind Permafrostküsten, das gefrorene Wasser hält die Sedimente in den Böden wie Zement zusammen. „Taut der Permafrost auf, versagt die bindende Wirkung. Die zuvor im Eis eingeschlossenen Sedimente, Tier- und Pflanzenreste lösen sich und werden von den Wellen davongewaschen“, erklärt Fritz. Und dabei werden nicht nur die Treibhausgas Methan und Kohlendioxid frei, sondern auch große Mengen an Nähr- und Schadstoffen wie Stickstoff, Phosphor oder Quecksilber. Die Stoffe gelangen ins Meer und verändern dort nach Ansicht der Forscher die Lebensbedingungen im Flachwasserbereich nachhaltig. „Die Folgen für das Nahrungsnetz können wir bisher nur erahnen“, sagt Michael Fritz. Bis heute sei so gut wie gar nicht untersucht worden, wie sich die Biogeochemie der Küstenzone im Zuge der zunehmenden Erosion verändert und welche Konsequenzen dies für die Ökosysteme, für wichtige Fischgründe und somit am Ende auch für die Menschen in der Arktis hat.

Daher nun der Aufruf an die Forscherkollegen, die Folgen der Küstenerosion für die arktischen Flachwasserbereiche systematisch zu untersuchen. Die Wissenschaftler um die niederländische Permafrostexpertin Jorien Vonk und den Potsdamer AWI-Forscher Hugues Lantuit fordern ein interdisziplinäres Forschungsprogramm, das politische Entscheidungsträger sowie die Bewohner der arktischen Küsten von Anfang an mit einbezieht. „Politik und Wissenschaft müssen hier gemeinsame Lösungen finden, zum Beispiel im Rahmen des EU-Forschungsprogramms Horizon 2020“, meint Fritz.

Sauerstoffarme Zonen entstehen, das Meer versauert

Aktuelle Studien deuten darauf hin, dass in den nächsten Jahrzehnten durch die Erderwärmung immense Mengen im Boden gespeicherter Treibhausgase frei werden, auch dabei spielt das Auftauen des Permafrostes eine Rolle. Durch die Prozesse in der arktischen Küstenzone entstehen zudem zusätzliche Treibhausgase, da das abgetragene organische Material von Mikroorganismen zersetzt wird. Zudem weisen die Polarforscher darauf hin, dass freigesetzte Nährstoffe das Wachstum der Algen ankurbeln, was unter Umständen zur Bildung sauerstoffarmer Zonen führen könne. Auch verstärkt der Eintrag organischen Kohlenstoffs die Versauerung des Meeres und zuletzt werden die Sedimente am Meeresboden abgelagert oder aber auf die offene See hinaustransportiert. „Beides hat unmittelbare Folgen für die Biologie des Meeres“, so die Autoren des Aufrufs.

Durch die fortschreitende Erwärmung der Arktis wird die Lage immer brisanter. „Wir gehen davon aus, dass die Erosion der arktischen Küsten drastisch zunehmen wird – bedingt durch die steigenden Temperaturen, das Schrumpfen der schützenden Meereisdecke sowie durch den steigenden Meeresspiegel“, erklärt Permafrostexperte Lantuit. Der Meeresspiegelanstieg führe dazu, dass die Wellen in der meereisfreien Zeit immer höher und weiter an die Küsten schlagen. Eine Erosion in diesem Ausmaß werde zudem auch die Nahrungsnetze in der Küstenzone verändern. „Und somit vor allem jene Menschen treffen, die vom Fischfang abhängig sind und ihre traditionelle Lebensweise entlang der arktischen Küsten pflegen.“

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