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Unterzeichnet vom Militärkommandanten: Der Befehl über den Ausnahmezustand der Stadt und des Bezirks Potsdam im Juni 1953.

© POTSDAM MUSEUM/Potsdam Museum

17. Juni 1953 in Potsdam: „Du gehst jetzt heute nicht zur Schule“, ordnete mein Großvater an

An Straßenbäumen verkünden Zettel den Ausnahmezustand, Panzer rollen durch die Stadt – und auch Potsdamer Arbeiter legen die Arbeit nieder. Ein Zeitzeuge erinnert sich.

Von Hans-Rüdiger Karutz

Ein regnerisch-schwüler Sommertag in Potsdam: Unsere Familie sitzt seit dem Vorabend nur noch am „Volksempfänger“ mit seinem runden Stoff-Überzug und hört den RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor): Seit dem 16. Juni streiken die Bauarbeiter auf der Stalinallee, am Krankenhaus Weißensee in Ost-Berlin – nun auch in Potsdam?

An Industrie mangelt es nicht: Im Babelsberger Karl-Marx-Werk bauen sie Lokomotiven. Die Bauunion arbeitet mit Hunderten von Arbeitern am Wiederaufbau der vor acht Jahren halb zerstörten alten Preußen-Metropole. Gehen jetzt – in einer eher beschaulichen, bürgerlichen Stadt – Tausende auf die Straße? Im SED-Hauptquartier – der Bezirksleitung – steigt die Unruhe. Bei der „Kasernierten Volkspolizei“ nahe dem Lustgarten ist ebenso wie bei der normalen „Vopo“ Krisenstimmung: Bei der Stasi an der Hegelallee brennt die Nacht über das Licht.

T34-Panzer rollen lärmend Richtung Nauener Tor

Am Vormittag des 17. Juni plötzlich Motorengeräusche aus Richtung Krampnitz/Nedlitz, wo die Rote Armee insgesamt rund 30.000 Mann stationiert hat. Wir gehen ans Küchenfenster, das zur Friedrich-Ebert-Straße (früher Spandauer Straße) hinausgeht: Da kommen sie – die Ungetüme der T34-Panzer, wie sie im Krieg eingesetzt wurden: Aus der Turmluke ragen die Köpfe der Kommandanten mit schwarzen „Sturmhauben“, wie wir sie auch heute auf Videos von der Ukraine-Front sehen.

Die Panzer – jetzt Kolonne um Kolonne – rollen lärmend in Richtung Nauener Tor, fahren offenbar durch die mittlere Öffnung, direkt Richtung Ruine des Stadtschlosses, dann über die Lange Brücke den Brauhausberg hoch in Richtung Michendorf. Klares Ziel: Das Zentrum Ost-Berlins, wo sich um diese Zeit bereits Tausende protestierender und demonstrierender Arbeiter eingefunden haben. Die T34 kommen offenkundig aus Richtung Döberitz und vom Bornstedter Feld, wo die Ungetüme sonst – offen sichtbar – in Unterständen stehen. In Krampnitz befindet sich die Hauptstreitmacht.

Die Panzerkolonne will kein Ende nehmen: „Du gehst jetzt heute nicht zur Schule“, ordnet mein Großvater an. Mein Vater kämpft zu dieser Zeit noch immer täglich um sein Leben in einem Bergwerk am Ural (Workuta) – als sowjetischer Häftling. Wir wissen nichts über sein Schicksal. Erst im Dezember 1954 kehrt er heim.

Als ich zu meinem Klassenkameraden Karl-Gustav in Nummer 34 der Friedrich-Ebert-Straße gehe, fallen mir die offenbar frisch gedruckten Zettel an den Straßenbäumen auf: „Ausnahmezustand“ oder „Befehl“ prangt auf den Papieren. Der Wortlaut: „Ab 17. Juni 1953 wird über die Stadt Potsdam und den Bezirk Potsdam der A u s n a h m e z u s t a n d verhängt. Im Zusammenhang damit befehle ich: Von 20 Uhr abends bis 6 Uhr früh ist jeglicher Verkehr der Zivilbevölkerung, mit Ausnahme der Angehörigen der Deutschen Volkspolizei, verboten. Ansammlungen von Gruppen über d r e i Personen sind untersagt.“ Unterschrift: „Generalmajor Dibrawa“ als Stadtkommandant.

Im Laufe des Tages sehe ich einige dunkle Gestalten, die offenbar straßauf, straßab dieses Verbot überwachen – aber Potsdam scheint ohnehin leer. Die Potsdamer sitzen am Radio und verfolgen, was in Berlin geschieht. Meine Schwester kommt aus der Schule. Eigentlich lief die Schlussprüfung nach dem üblichen Acht-Jahre-Turnus. „Prüfung in Gegenwartskunde wurde abgesagt“, berichtet sie. Ein besonders verhasstes Schulfach – wegen starker Ideologisierung in Richtung „Aufbau des Sozialismus“. Offenbar wollte sich die SED-Pädagogik angesichts des offenkundigen Aufstands nicht auf den möglichen Ausgang festlegen.

Aber auch in der noch immer unter Trümmern, Not, Flüchtlingselend und zunehmender Fluchtbewegung in den Westen leidenden Stadt bleibt es relativ ruhig – was die Straßenszene angeht.

In den großen Werken in Babelsberg und in Richtung Teltow sieht es dagegen zunehmend dramatisch aus. Unterlagen aus dem Fundus der Stasi belegen, wie sich die Lage im Laufe des Tages erheblich zuspitzt: „Ca. 12.00 Meldung des Genossen Volkspolizei-Meister P: Gegen 11.10 Uhr meldet der Genosse P, daß die Belegschaft des Dralowid-Werkes in Teltow geschlossen die Arbeit niedergelegt haben und eine Versammlung durchführen. Die Diskussionen gehen darauf hinaus, dass nach der Versammlung eine Demonstration negativer Art in Teltow durchgeführt werden soll... geplant ist ein Streik und eine Protestdemonstration...“ Besonders auffällig und ungewöhnlich, weil für die Demonstranten hochgefährlich.

Das Protokoll vermerkt: „Vorbeiziehende Truppen der Sowjetarmee wurden von den Arbeitern im Werkhof provoziert.“ Konkret: Die Panzer-Besatzungen hätten – wie später in Berlin – zumindest Warnschüsse oder gezieltes Feuer abgeben können.

West-Berliner wollen über die Glienicker Brücke

Weitere Meldungen dokumentieren die immer aufgeladenere Stimmung: „Bauunion Potsdam: Auf den Baustellen Eiche, Golm, Rehbrücke und Michendorf haben die Arbeiter die Arbeit niedergelegt.“ Seit halb vier steht auch das Karl-Marx-Werk still, wie der „Operativstab im VP-Kreisamt“ meldet.

Eine besonders brenzlige Lage ergibt sich an der Glienicker Brücke, wo – zum einzigen Mal im Verlauf des Geschehens am 17./18. Juni – auch West-Berliner offenkundig eingreifen und in Potsdam den Demonstranten helfen wollen: „15.10 Uhr VP-Kommissar B. vom Operativstab der Vopo, schreibt: Anruf der SED-Bezirksleitung, in der letzten halben Stunde sammeln sich auf der Brücke der Einheit (Westsektor) eine große Anzahl von Personen. Es ist wahrscheinlich, daß diese in das Stadtgebiet von Potsdam eindringen wollen. Die SED-Bezirksleitung bittet um Maßnahmen, um unter allen Umständen ein Eindringen zu vermeiden. Weiterhin muß die Glienicker Brücke verstärkt werden.“

Seit den Mittagsstunden hat die Stasi den S-Bahn-Verkehr in Richtung Westen – also Wannsee/Zehlendorf – gestoppt. Chaos am Bahnhof in Potsdam. Die Stasi schreibt: „Dort stauen sich Hunderte von Menschen. Die Kreisleitung hat ca. 40 Instrukteure eingesetzt.“ Auch die Defa in Babelsberg streikt: Die Filmleute legen gegen 10 Uhr die Arbeit nieder und verlangen Aufklärung über den Ausnahmezustand.

Potsdam kommt im Laufe des Tages nicht zur Ruhe. In den Wohnungen läuft der RIAS auf Hochtouren, so gut wie niemand lässt sich auf den Straßen blicken. Ich komme – mit Mühe nur – rechtzeitig vor 20 Uhr von meinem Schulfreund zurück. Überall das Thema des Tages: Aufstand, Demos – ja, Revolution? Wie endet das alles? Angst vor Chaos und Rache geht um. Auch wir Kinder bleiben noch lange wach.

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