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Historische Herausforderung: Hitler war nur Randfigur

Mythos – Zankapfel – Erinnerungsort: Die Potsdamer Garnisonkirche in der deutschen Erinnerungskultur (Teil 2)

Die Garnisonkirche spaltet die Stadt wie kein anderes Potsdamer Wahrzeichen. Seit Jahren laufen die Bemühungen, die 1732 eingeweihte Barockkirche wiederaufzubauen. Doch dagegen gibt es Widerstand. Er ist vor allem in der widersprüchlichen Geschichte des Gotteshauses begründet, das mit dem „Tag von Potsdam“ verbunden wird, beim alliierten Luftangriff am 14. April 1945 zerstört und dessen Ruine im Juni 1968 auf Beschluss der DDR-Führung gesprengt wurde. Der renommierte Historiker und Politikwissenschaftler Martin Sabrow, der das Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) leitet, hat in einem aufsehenerregenden Vortrag mit Mythen um die Garnisonkirche aufgeräumt, deren Geschichte offenbar gerade 1933 und 1968 ganz anders verlief, als viele zu wissen glauben. Die PNN veröffentlichen den Vortrag in leicht gekürzter Fassung in drei Teilen.

Heute: Der „Tag von Potsdam“ 1933 (Teil 2)

Zur Erklärung der Wirkung, die von der Zeremonie der Reichstagseröffnung am 21. März 1933 ausging, bedarf es daher gar nicht einer bewundernden Reverenz vor der unheimlichen Verführungskraft der nationalsozialistischen Machthaber. Ganz fälschlich, so scheint mir, ist der „Tag von Potsdam“ in unserem Gedächtnis als klassisches Beispiel einer listig berechneten symbolpolitischen Verführung gespeichert, das so ausgezeichnet in den Entlastungsdiskurs der bundesdeutschen Frühgeschichte passt. Kein Schulbuch (...) verzichtet auf den berühmten Händedruck vor der Potsdamer Garnisonkirche, der die teuflische Fähigkeit der Nationalsozialisten illustrieren soll, die Geschichte in ihren politischen Dienst zu nehmen. In dieser Sicht erscheint die „Potsdamer Rührkomödie“ (Meinecke) als „perfekt inszeniertes Schauspiel der Verbindung preußischer Tradition mit brauner ‚Revolution’, die in Verbindung mit dem anschließenden Ermächtigungsgesetz vom 23. März den Weg frei machte erst zur politischen Gleichschaltung, dann zur kumulativen Machtentgrenzung und schließlich zu Weltkrieg und Völkermord“. Natürlich glauben wir zu wissen, wem wir dieses angeblich so meisterhaft inszenierte Kabinettstück nationalsozialistischer Massenlenkung zu verdanken haben: Hitlers luziferischem Propagandavirtuosen Joseph Goebbels, der sich mit voller Kraft in seinen Auftrag gestürzt hatte, mit seiner großen „Vernebelungsveranstaltung“ von Potsdam nach den kleinen Leuten nun auch das konservative Bürgertum hinter sich zu bringen.

Nun steht und fällt die Verführungsthese mit dem Nachweis, dass der „Tag von Potsdam“ Produkt einer raffinierten geschichtspolitischen Regie war. Das aber war er keineswegs. Zunächst ging die Entscheidung, nach 1848 und 1919 auch den dritten Anlauf zu einer revolutionären Parlamentskonstituierung außerhalb Berlins zu unternehmen, gar nicht auf den symbolpolitischen Willen der seit dem 30. Januar 1933 regierenden Koalitionsregierung von Nationalsozialisten und Deutschnationalen zurück, sondern auf den bekannten Brandanschlag vom Abend des 27. Februar 1933, der den Berliner Reichstag in eine rauchgeschwärzte Ruine verwandelt hatte. Erst daraufhin hatte Hitler im Reichskabinett den Vorschlag geäußert, den am darauffolgenden Sonntag zu wählenden Reichstag zur Eröffnungssitzung nach Potsdam in das Stadtschloss einzuberufen. Doch zuständigkeitshalber vom Reichsinnenministerium unternommene Sondierungen bei der Potsdamer Schlösserverwaltung am 1. März blieben unergiebig; ein 600 Abgeordneten Platz bietender Großraum bot weder das Schloss noch ein anderer preußischer Repräsentativbau. Erst als sich abzeichnete, dass Reichsinnenminister Frick in der gesetzten Frist seinem Auftrag nicht würde nachkommen können, verfiel ein befragter Potsdamer Obermagistratsrat auf die kühne Idee, ein hinreichend geräumiges Gebäude vorzuschlagen, das sich allerdings als Sakralraum und überdies Grablege zweier Preußenkönige für die konstituierende Sitzung eines politischen Parlaments nicht unbedingt anbot: die im frühen 18. Jahrhundert erbaute Potsdamer Hof- und Garnisonkirche. An der Spitze des nationalsozialistisch geführten Reichsinnenministeriums wurde dieser Vorschlag, der symbolpolitisch so ganz auf der Linie des deutschnationalen Koalitionspartners lag, als derart brisant eingestuft, dass Reichsinnenminister Frick den Beteiligten zunächst ein striktes Schweigegebot auferlegte, um nicht durch eine etwaige Ablehnung Hitlers desavouiert zu werden. Ein Alternativvorschlag stand allerdings in der Kabinettssitzung am folgenden Tag nicht zu Gebote, und so erklärte Hitler sich zur unverhohlenen Verblüffung seines Vizekanzlers Papen einverstanden, den Reichstag zu seiner Eröffnungssitzung an einem Ort einzuberufen, der das neue „Dritte Reich“ ganz in die Kontinuität des 1918 untergegangenen Zweiten Reichs stellen würde. Der Widerstand der kurmärkischen Oberkirchenleitung unter Otto Dibelius, die sich der Unterstützung des Reichspräsidenten versicherte, verhinderte die Umsetzung dieses Vorschlags und führte nach einigem Hin und Her am 7. März zu einem Kompromiss, der die Versammlung in der Garnisonkirche auf einen feierlichen Staatsakt reduzierte und ihr einen nach Konfessionen getrennten Auftaktgottesdienst in der evangelischen Nikolaikirche bzw. in der katholischen Stadtpfarrkirche voranstellte. Die eigentliche Reichstagseröffnung wurde nun einem gesonderten Akt in einem benachbarten Profangebäude vorbehalten, dem Langen Stall. Genau einen Tag später war auch diese Festsetzung bereits wieder gegenstandslos, als nämlich Hitler und Göring bei einem Lokaltermin zur allgemeinen Überraschung entschieden, den Eröffnungsakt auf den 21. März vorzuziehen. In zwei Wochen aber war der Lange Stall nicht versammlungstauglich umzubauen, sodass am Ende die eigentliche Reichstagseröffnung aus bautechnischen Zwängen nun doch in die Berliner Kroll-Oper verlegt werden musste und für Potsdam nur eine zeremonielle Auftaktveranstaltung ohne politische Bedeutung übrigblieb. Erst nachdem all diese Festlegungen bereits getroffen waren, trat mit Joseph Goebbels endlich jener Akteur auf die Bühne, dem die Legende die ganze Verantwortung für die Potsdamer Großveranstaltung zuschreibt. Am 13. März wurde Goebbels zum Minister des neugeschaffenen Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda berufen, und ihm blieb kaum mehr als eine Woche, um das Potsdamer Projekt umzusetzen, das von einem Tag auf den anderen zur öffentlichen Nagelprobe für die Existenzberechtigung seines in der staatlichen Ressortgeschichte noch nicht dagewesenen Medienministeriums geworden war. Von souveräner Regie kann in dieser Vorgeschichte keine Rede sein, in der Zufälle, Kompromisszwänge und Ad-hoc-Entscheidungen eine erheblich größere Rolle spielten als der von Goebbels reklamierte Anspruch, die Reichstagseröffnung „zum ersten Mal im Stil nationalsozialistischer Formgebung“ abzuhalten.

Als Symbol politischer Verführungskraft ist der „Tag von Potsdam“ bei Licht besehen ziemlich hohl. Ebensowenig ist die Deutung schlüssig, die die Garnisonkirche als bloßen Schandort begreift, an dem die alten nationalkonservativen Eliten ihre symbolische Kapitulation vollzogen und sich Hitler willfährig angedient hätten. Hinter der vermeintlichen Versöhnung von „alter Größe und junger Macht“, die die Propaganda im „Dritten Reich“ etwa mit der ikonografischen Postkartentrias von Friedrich dem Großen, Hindenburg und Hitler herausstrich, verbarg sich in Wirklichkeit eine Konkurrenz um die symbolpolitische Vorherrschaft innerhalb des rechten Lagers – aus dem an diesem Tage zumindest dem Anschein nach der bürgerliche Nationalismus und nicht die NS-Bewegung mit Hitler an der Spitze als Sieger hervorging. Wie zahlreiche Beobachter übereinstimmend notierten, dominierte am 21. März nicht das nationalsozialistische Hakenkreuz, sondern in erdrückendem Übermaß das kaiserliche Schwarz-Weiß-Rot im Farbenmeer der geflaggten Häuser und Straßen Potsdams. (...) Den stärksten Beweis dafür, dass die von den Umständen erzwungene Entscheidung für die Potsdamer Garnisonkirche in der Folge eine ganz ungewollte Signalwirkung zu entfalten drohte, lieferte die NS-Führung selbst. Offenbar musste Goebbels immer stärker von der Sorge befallen worden sein, dass Ort und Ablauf der geplanten Feier weniger den angestrebten Stil nationalsozialistischer Formgebung als vielmehr die geglückte Einbindung Hitlers in das konservative Zähmungskonzept seines Vizekanzlers Papen demonstrieren würde. Nur so ist zu erklären, dass Goebbels am Vorabend des Staatsaktes Hitler dazu bewog, das von ihm selbst so sorgsam ausgearbeitete Programm des Potsdamer Staatsaktes mit einem Affront zu torpedieren, der unter anderen Umständen zu einem veritablen Skandal hätte werden können. Überraschend nämlich blieben beide am Morgen des „Tags von Potsdam“ dem auftaktbildenden Gottesdienst in der katholischen Stadtpfarrkirche fern, um stattdessen in trotzig-revolutionärer Kämpferhaltung auf dem Luisenstädtischen Friedhof in Berlin-Kreuzberg Kränze an den Gräbern im Straßenkampf zu Tode gekommener SA-Männer niederzulegen.

Tatsächlich stand Potsdam am 21. März weitgehend im Zeichen der monarchischkonservativen Tradition, die sich in der frenetischen Begeisterung zeigte, mit der der 85-jährige Reichspräsident vor und nach dem Gottesdienst in der Nikolaikirche ebenso gefeiert wurde wie bei einer anschließenden Triumphfahrt durch die Stadt nach Sanssouci und zurück. Auch der Staatsakt selbst schien den symbolpolitischen Sieg des monarchischen Restaurationsgedanken über die braune Revolutionsideologie zu unterstreichen. Die unangefochtene Mittelpunktsstellung wahrte auch hier Hindenburg und nicht Hitler. (...) Erst nach einer kurzen Eröffnungsansprache Hindenburgs vermochte (...) Hitler kurzzeitig das Interesse der Zuschauer und vor allem Zuhörer ganz auf sich zu ziehen. Aber seine überraschend maßvoll vorgetragene, von antisemitischen Anklängen freie Regierungserklärung ging an keiner Stelle über nationalkonservative Ziele hinaus und bewegte sich mit ihrem Aufruf zur nationalen Einheit ganz in dem Rahmen, den zuvor der Reichspräsident in seiner Ansprache gesteckt hatte. Die weitere Zeremonie war wieder ganz von Hindenburg beherrscht, der Hitler mit einem bewegten Händedruck dankte, um sich dann nur in Begleitung zweier Adjutanten an die Königsgruft hinter dem Altar zu begeben und vor einem schweigend verharrenden Auditorium innere Zwiesprache an den Sarkophagen der toten Preußenherrscher zu halten. Der Reichskanzler blieb von dieser Zeremonie ausgeschlossen, obgleich sie im Sinne der translatio imperii eine einzigartige Gelegenheit geboten hätte, eine unio mystica zu inszenieren und vor den Sarkophagen der Preußenkönige den eben gekürten Nachfolger Hitler das Herrscherheil aus der Hand Hindenburgs empfangen zu lassen. So blieb dieser Akt dem Reichspräsidenten als dem eigentlichen Mann der Stunde vorbehalten. (...) Nichts schien darauf hinzudeuten, dass an diesem Tag die bürgerliche Rechte vor Hitler kapituliert habe, alles aber darauf, dass das von Hindenburg und Papen verfolgte Zähmungskonzept anschlüge und die bislang so plebejische und gewaltorientierte Hitlerbewegung ihrem nationalrevolutionären Habitus öffentlich abzuschwören bereit sei und sich unwiderruflich in die Tradition eines restaurativen Preußentums eingefügt hätte. (...) Weder die auf die Nazis zielende Verführungsthese noch der auf die bürgerlichen Eliten zielende Kapitulationsvorwurf sind hinreichend geeignet, um zu erklären, warum der „Tag von Potsdam“ zum symbolpolitischen Gründungstag des Dritten Reiches werden konnte. Ein nicht unwesentlicher Teil der historischen Verantwortung gebührt vielmehr einem dritten Akteur: nämlich der deutschen Mehrheitsgesellschaft und ihrem immer stärker artikulierten Verlangen nach einer umfassenden Zeitenwende, die sich in der politisch belanglosen Zeremonie einer Parlamentskonstituierung ihr ausdrucksstarkes Symbol suchte.

Goebbels’ entscheidende Leistung bestand darin, dieses Mythenbedürfnis aufzunehmen und mit Hilfe des Rundfunks und eines zentralen Aufrufs zum „Tag von Potsdam“ in eine mediale Mobilmachung der deutschen Gesellschaft zu überführen. Sie verwandelte den zeremoniellen Potsdamer Staatsakt in ein Gemeinschaftserlebnis nationaler Identitätsstiftung auf dem Wege des Mitmachens und des Mithörens. Der „Tag von Potsdam“ bediente eine Sehnsucht nach Veränderung, die zugleich Geborgenheit in der Geschichte versprach. Er fügt sich in ein mit der nationalsozialistischen Machtergreifung dominant werdendes Zeitmuster ein, das Zukunft und Vergangenheit miteinander harmonisch zu versöhnen vorgab. Nicht zufällig feierte die NS-Propaganda die Zeitenwende von 1933 nicht im Stile üblicher Revolutionen als Absage an das Gewesene, sondern als Rückkehr zum Alten auf dem Wege der Erneuerung durch Annullierung der schlechten Gegenwart von Weimar, die durch Hitler in immer neuen Wendungen als „Wiederaufstieg“, „Wiedergeburt“, „Wiedererweckung“, „Wiedererhebung“, „Wiederaufrichtung“, (...) des Deutschen Reiches beschworen wurde. Der „Tag von Potsdam“ machte die Garnisonkirche zum Geburtsort einer mythischen Fusion von Erfahrung und Erwartung und eines behaupteten Ausgleichs der Polarität von Natur und Technik, der die nationalsozialistische Antwort auf die Krise der Moderne darstellte.

Der erste Teil erschien am Montag, dem 25. Juli. Der dritte und letzte Teil erscheint am morgigen Mittwoch, dem 27. Juli.

Martin Sabrow

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