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Mehr Zeit für Werte. Rüdiger Ziemer will die Sportschüler für einen fairen Umgang sensibilisieren.

© A. Klaer

Landeshauptstadt: „Gewalt hat an unserer Schule keinen Platz“

Rüdiger Ziemer, Leiter der Jahn-Sportschule, über die Konsequenzen aus den Missbrauchs- und Mobbingvorwürfen

Herr Ziemer, die „Eliteschule des Sports“, die Sie leiten, steht seit Wochen in den Schlagzeilen. Im Fokus steht das Wohnheim der Schule, das erst die Stadt betrieben hat und nun die kommunale Luftschiffhafen GmbH. Es geht um den Vorwurf der sexuellen Nötigung unter Schülern, um Gewalt und Mobbing. Wie sicher leben Kinder in diesem Wohnheim?

Diese Frage ist gerade am vorvergangenen Wochenende oft gestellt worden, als mehr als 1000 Gäste zum Tag der offenen Tür kamen. Dabei haben ganz viele Schüler unserer Schule authentisch Auskunft darüber gegeben, wie sie hier lernen und arbeiten, wie sie sich hier fühlen, ob sie Angst haben oder nicht, wie man als Kind hier Wurzeln schlägt – und sie haben über das Leben im Internat gesprochen.

Und?

Jedes Jahr kommen 120 neue Schüler aus ganz Deutschland zu uns – 80 bis 90 von ihnen gehen ins Internat und verändern ihr Leben total. So ein Schritt verlangt Mut, denn sie müssen sich komplett neu einordnen: in ihre Trainingsgruppe, in die Schule, ins Internat. In der Regel sind es die Schüler von zu Hause gewohnt, zu den Besten zu gehören. Hier aber haben sie viele Konkurrenten. Da kommt es auch zu Auseinandersetzungen – die sind übrigens auch wichtig, weil es sonst keine Entwicklung gibt. Nach den aktuellen Erfahrungen werden wir aber noch klarer bestimmen, wo die Grenze zwischen einem normalen Konflikt und einem übergriffigen Verhalten verläuft. Eines muss jeder Schüler begreifen: Wenn einer sagt, dass eine Grenze überschritten ist, dann muss Schluss sein. Gewalt hat an unserer Schule keinen Platz.

Aber wie sicher lebt es sich nun in dem Internat Ihrer Schule?

Diese Frage können die dortigen Erzieher am Besten beantworten. Wir haben aber eine gemeinsame Verantwortung und müssen uns alle fragen, ob unser Antennensystem fein genug justiert ist, um zu erkennen, wenn Kinder und Jugendliche ernstzunehmende Probleme haben.

Kritiker sehen strukturelle Probleme in dem Internat – bemängelt werden angeblich zu geringe pädagogische Fähigkeiten der Erzieherinnen, die von der Stadt vielfach früher in Kitas eingesetzt waren.

Über die Qualifikation der Erzieherinnen und Erzieher kann nur der Träger des Wohnheims Auskunft geben.

Offenbar hat das System im aktuellen Fall versagt: Der fragliche Übergriff auf zwei Schüler der achten Klasse wurde von ins Vertrauen gezogenen Erziehern viel zu lange nicht weitergemeldet.

Die genauen Umstände, weshalb der Vorfall nicht sofort aufgeklärt wurde, kenne ich nicht. Richtig ist, dass auf solche schweren Vorwürfe sofort reagiert werden muss.

Wie bewerten Sie denn den begonnenen Neuanfang am Wohnheim?

Positiv. Die eingesetzten Jugendhilfeträger Start gGmbh und Stibb e.V. haben viel Erfahrung. Auch unter dem Aspekt, dass nächstes Jahr ein Neubau neben dem Wohnheim mit 150 weiteren Plätzen entstehen soll, kann Hilfe und ein Blick von außen nicht schaden.

Wie werten Sie die Vorwürfe, jenseits der mutmaßlichen sexuellen Nötigung, wegen der die Staatsanwaltschaft ermittelt, habe es in den vergangenen Jahren weitere Vorfälle gegeben?

Die Schule wird im nächsten Jahr 60 Jahre alt: Was in dieser Zeit alles passiert ist, kann ich schwer sagen. Wenn uns in den vergangenen Jahren konkrete Fälle von Übergriffen bekannt wurden, haben wir – in Kooperation mit den Partnern im Luftschiffhafen – konsequent reagiert, zum Teil bis zum Schulverweis.

Ihr früherer Schüler Tino Fischer, jetzt Chef der Jungen Union in Potsdam, schildert einen Fall, bei dem ein Schüler aus dem Wohnheimfenster gehängt worden sein soll.

Mir sind solche Exzesse nicht bekannt. Ich kann alle, die von Übergriffen Kenntnis haben, nur aufrufen, sich bei uns, der Schulaufsicht, der Polizei oder externen Kinderschutz-Experten zu melden, damit wir solche Vorwürfe aufklären können. In einem Punkt hat sich der Umgang in den letzten Jahren tatsächlich zum Negativen verändert: Immer mehr der Neuzugänge in den 7. und 8. Klassen haben inzwischen ein Vokabular im Gepäck, dass bei uns nicht üblich ist. Daran müssen wir sehr intensiv arbeiten. Traditionell gibt es für unsere Neulinge ein Kennlern-Programm mit Kursen zur Konfliktbewältigung, Teambildung und Fairness.

Ein Autor im Auftrag der Schule schrieb im Zusammenhang mit dem Missbrauchsvorwurf über „von sensationslüsternen Medienvertretern aufgebauschte und mit Mutmaßungen hinterlegte Ereignisse“. Ist das auch Ihre Sicht der Dinge?

Seit Mitte Oktober gibt es einen Verdacht und eine Anzeige bei der Polizei. Seitdem reißen die Berichte nicht ab, bei denen etwa die Formulierung, Schüler hätten sich an Mitschülern „vergangen“, immer wiederkehrt. Ich würde es begrüßen, wenn das Ergebnis der Ermittlungen abgewartet wird.

Wie machen sich die immer neuen Schlagzeilen im Schulalltag bemerkbar?

Die Schüler fühlen sich durch die Berichterstattung verunsichert, einige auch stigmatisiert. Die Schüler wollen in Ruhe unterrichtet werden, trainieren – und sie wollen die Sache in einem Projekt mit Lehrern, Trainern und Erziehern aufarbeiten. Sie wollen Fragen beantworten, was gegenseitiger Respekt bedeutet, wann die Würde eines Menschen verletzt wird und wie sich die innerschulische Kommunikation befördern lässt.

Können Sie das plastischer erklären?

Es gab eine große Beratung mit Schülern, Internatserziehern und Lehrern, wie das Klima in der Schule und im Wohnheim empfunden wird, etwa das Verhältnis von Stärkeren und Schwächeren. Wir haben die Frage gestellt, ob unser Leitbild weiterhin trägt, welche Möglichkeiten es gibt, über Schule, Training und Abendgestaltung hinaus Jüngere und Ältere zusammenzubringen. Wir arbeiten mit Sportpsychologen der Uni Potsdam zusammen – wir versuchen, ein weit gespanntes Auffangnetz zu schaffen, für Kinder, die es schwer haben und die in schwierigen Situationen sind.

Sie haben ja angekündigt, „verstärkt unterrichtliche und außerunterrichtliche Veranstaltungen zur Werteerziehung“ zu nutzen. Was bedeutet das konkret?

Das können zum Beispiel gemeinsame Kunstprojekte zwischen 8. und 12. Klassen sein. Ein Problem ist natürlich das geringe Zeitbudget aller Schüler. Dennoch werden wir über weitere Möglichkeiten zur Wertevermittlung nachdenken.

Dieser Zeitmangel schafft sicher auch Probleme für Schüler – und Druck im Sport, Druck im Unterricht, Druck im Internat.

Das stimmt. Allerdings sind Auseinandersetzungen im Sport normal. Wer siegen will, muss auch andere besiegen können. Wer bei Olympia in den Ausdauerdisziplinen antreten will, muss seinen Körper an solche Belastungen gewöhnen. Daher entsprechen die Trainingsumfänge bei uns international üblichem Niveau. Zugleich benötigen alle Sportler eine sehr gute schulische Ausbildung. Und: Wenn es Probleme gibt, müssen sich die Schüler bei uns aufgehoben fühlen.

Bekannt ist, dass es mindestens einen weiteren Fall vom Mobbing gegeben haben soll. Der Schüler schilderte Schläge oder wie er in einem Spind eingeschlossen wurde. Wie ist der Stand der Aufklärung?

In diesem Fall sind die Dinge in dieser Dimension nicht so gewesen.

Ihr Schulmotto lautet: „Modern trainieren – konsequent erziehen – mit Freude lernen“. Ist es konsequent, die beiden Tatverdächtigen an der Schule zu belassen?

84 Lehrer der Sportschule haben sich die Entscheidung nicht leicht gemacht. Nach gründlicher Abwägung wurde der Antrag an das Staatliche Schulamt Brandenburg gestellt, eine Entlassung von der Schule anzudrohen. Kommt es zu einem weiteren Fehlverhalten, müssen die beiden tatverdächtigen Schüler die Schule verlassen. Wir haben versucht, eine Entscheidung zu treffen, die sowohl den mutmaßlichen Tätern als auch den vermeintlichen Opfern gerecht wird.

Welche Erziehungsmaßnahmen sind für die beiden Verdächtigen nun geplant?

Konkret erwarten wir von beiden, dass sie sich im Rahmen ihrer Klasse zu Konfliktlotsen ausbilden lassen und mit jüngeren Klassen unter Anleitung arbeiten – wir arbeiten dazu mit einer Fachhochschule zusammen. Das ist eine Erziehungsmaßnahme, bei der sie jede Woche im Ganztagsunterricht tätig werden und sich bewähren müssen.

Wie gehen Sie damit um, dass Täter und Opfer an einer Schule lernen?

Wir denken, dass es nicht einfach ist, wenn sie sich begegnen. Ihre Eltern bemühen sich sehr um Aufarbeitung durch professionelle Hilfe. Wir steuern den Schulalltag so, dass es kaum Berührungspunkte zwischen den vier Schülern gibt.

Fürchten Sie, dass der Schule der Titel „Eliteschule des Sports“ vom Olympischen Sportbund aberkannt wird?

Von dort hat mich noch niemand offiziell darüber informiert, dass etwas geprüft wird. Nur in der ersten Woche hatte ich ein Gespräch mit dem Sportbund, in dem ich die Situation geschildert habe.

Was hätte eine Aberkennung für Folgen?

Darüber möchte ich an dieser Stelle nicht spekulieren.

Die Fragen stellte Henri Kramer

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