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Zeitzeugentreffen. Werner Sperling (l.) erzählt von seinen Erinnerungen.

©  A. Klaer

Gedenkstätte Lindenstraße Potsdam: Es begann mit einem Stück Kreide

Neue Sonderausstellung in der Gedenkstätte Lindenstraße erinnert an Opfer.

Von Sarah Kugler

Zwangsglatze, demütigende Ganzkörperuntersuchungen und mehrere Jahre Arbeitslager. Gerade mal 18 Jahre alt war Werner Sperling, als er 1950 wegen angeblicher Boykotthetzerei und versuchter Spionage vom Russischen Militärtribunal in Potsdam zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde. An sein und viele andere Schicksale erinnert nun die aktuelle Sonderausstellung der Gedenkstätte Lindenstraße „‘Bin unschuldig hier‘ Gesichter aus zwei Diktaturen in Deutschland“, die am gestrigen Sonntag im Rahmen des Internationalen Museumstags und in Anwesenheit vieler Zeitzeugen eröffnet wurde.

Zu sehen sind dabei 89 Porträts von Menschen, deren Schicksale sowohl zu Zeiten des NS-Regimes als auch während der DDR mit dem Ort der Gedenkstätte verknüpft sind. Die Bilder zeigen ehemalige Häftlinge, aber auch Menschen, die etwa vom Erbgesundheitsgericht zur Zwangssterilisation verurteilt wurden. Das Besondere dabei: Die Ausstellung ist an der Außenwand des Hauses installiert. „Wir wollen damit auch von außen als Gedenkstätte erkennbar sein“, erklärte Kurator Christian Müller-Lorenz.

Werner Sperlings Geschichte beginnt im Mai 1950: Der junge Mann knüpft während des Deutschlandtreffens der Freien Deutschen Jugend (FDJ) in West-Berlin erste Kontakte zu den Widerstandsgruppen „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ und „Rote Falken“, die er durch seinen Bruder kennenlernt, der in den Westen geflohen war. „Meine erste verbrecherische Handlung war damals, im Blauhemd in den Westen einzulaufen, das war eigentlich nicht erlaubt“, so Sperling am Sonntag. „Ins Gefängnis kam ich dann allerdings, weil ich unwissentlich eine große Dummheit beging.“ Ermuntert durch den Lehrer Manfred Schnee verteilt der heute 83-Jährige Flugblätter der Widerstandsgruppen und malt in seinem Heimatort Mölbis ein großes „F“ mit Kreide an viele Wände. „Ich dachte, das steht für Freiheit, die Russen haben das aber ganz anders ausgelegt.“ Für sie stand das „F“ für „Feindschaft dem Terrorsystem“, was Hetze gegen das System gleichkam. „Die verstanden sich ja als unsere Befreier und nicht als Terrorsystem, das haben sie mir sehr oft vorgehalten“, so Sperling. Am 6. Dezember 1950 wird er in seinem Elternhaus von zwei Kriminalpolizisten festgenommen – ohne den genauen Grund dafür zu kennen. In Potsdam angekommen, beginnt eine Tortur: Nackt muss er eine Ganzkörperuntersuchung über sich ergehen lassen, die Haare werden ihm abrasiert. Er sitzt zunächst in Einzelhaft, schließlich wird er in eine Zelle verlegt, die er sich mit drei Häftlingen teilt. Dort bleibt er mehrere Monate, bis er schließlich am 27. April 1951 vom Russischen Militärtribunal – genauso wie sein Bruder – zu 25 Jahren Haft verurteilt wird. Über den Lehrer Manfred Schnee wird das Todesurteil gefällt.

Sperling und sein Bruder müssen in den Lagern Workuta und Taischet Zwangsarbeit leisten. Die großen Filzstiefel und die selbstgebauten Schuhe aus Birkenrinde hat Sperling noch immer – am Sonntag übergab er sie als Leihgabe der Gedenkstätte. Ende Dezember 1953 kehrt Sperling aus der Sowjetunion zurück, gerät 1961 erneut in das Visier des Ministeriums für Staatssicherheit und flieht zwei Wochen vor Mauerbau in den Westen. Mit Vorträgen vor Studenten und Schülern möchte er diese Zeit und die vielen Opfer nicht in Vergessenheit geraten lassen. „Erinnerung ist unsere Aufgabe“, sagte er am Sonntag. 

Die Ausstellung ist noch bis zum 26. Juni an der Gedenkstätte Lindenstraße, Lindenstraße 54-55, zu sehen.

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