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Einst besetztes Haus "Archiv" wird 21: „Herr Jakobs, Ihr Büro ist besetzt!“

Anfang der 90er-Jahre war Potsdam ein Zentrum der Hausbesetzerszene. Mittlerweile sind die Häuser geräumt, nur wenige Projekte gibt es noch. Eines davon, das Archiv, feiert an diesem Wochenende sein 21-jähriges Bestehen. Ein Blick zurück in eine andere Stadt

War es Zufall, Glück? Einerlei. Jedenfalls gäbe es das Archiv in der Leipziger Straße heute beinahe gar nicht mehr. Nicht wegen der bewegten Geschichte des Hauses in den Nachwendejahren, nicht wegen der Besetzung und der Räumung durch die Polizei, sondern wegen eines Lagerfeuers, das an einem Konzertabend im August 1997 auf dem Hof vom Archiv brannte. Über diese eine Stelle dicht am Feuer waren schon unzählige Male Autos gefahren. Und plötzlich stach genau dort an diesem Abend eine sechs Meter hohe Stichflamme hervor, selbst vom Hauptbahnhof war sie gut zu sehen. Eine Gasleitung? Nein, die herbeigerufene Feuerwehr stellte fest: Es war der Zünder einer Weltkriegsbombe, der da im Boden lag. Der Munitionsbergungsdienst wurde eilig dazugeholt – und gab Entwarnung: Die Bombe war nicht mehr intakt. Was sonst passiert wäre? „Naja“, war die lapidare Antwort der Experten, „freie Sicht zur Havel.“

Das Archiv steht noch und feiert dieses Wochenende sein 21-jähriges Bestehen. Es ist ein Relikt aus einer Zeit, in der Potsdam noch eine andere Stadt war, damals in den Jahren nach der Wende. Ganze Straßenzüge standen leer, die Häuser waren dem Verfall preisgegeben: Ein Nährboden für eine Subkultur, die nicht nur wie die ganze Stadt unter der prekären Wohnraumsituation litt – mehr als 10 000 Potsdamer mit Wohnberechtigungsschein fanden keine Wohnung, während mehr als 2000 Wohnungen in der Innenstadt leer standen. Diese Subkultur war auch vom Idealismus des Aufbruchs und Neuanfangs nach dem Zusammenbruch der DDR infiziert. Es ist die Geschichte der Potsdamer Hausbesetzer, die viel sagt über diese Stadt, über die Brüche, die Fronten, an denen bis heute gekämpft wird: sei es am Mercure-Hotel, an der Garnisonkirche, am Landtagsschloss, an den steigenden Mieten und dem Wohnungsmangel. Und diese Geschichte beginnt, wie so viele gute Geschichten, in einem Vakuum.

Das erste leer stehende Haus wurde am 19. Dezember 1989 besetzt: In der Dortustraße 65 war zuvor ein Reparaturladen des Fernsehherstellers RFT – noch heute ist in dem Gebäude ein soziokulturelles Wohnprojekt, das sich nach eigenem Verständnis explizit gegen die Verdrängung finanziell Schwächerer aus der Innenstadt engagiert. Einer, der damals an den Hausbesetzungen beteiligt war, nennt sich Sweety. Er heißt nicht wirklich so, seinen richtigen Namen will er aber auch nach mehr als zwei Dekaden nicht in einer Potsdamer Zeitung lesen. Nach der Wende sei alles zusammengebrochen, viele ausgereist, erzählt er. Aber die Szene wusste von den Hausprojekten, die es im Westen gab. Die Idee: Es sollten nur Häuser besetzt werden, in denen niemand wohnt, es ging um hehre Ideale wie faires Miteinander, Selbstverwirklichung abseits autoritärer Zwänge. Was fast klingt wie die verspäteten 1968er, wie so vieles in den neuen Ländern Nachgeholtes. Der Geist der Hausbesetzungen, in Hamburg, in Berlin, schwappte auch in den Osten.

Kurz nach der Dortu65 folgte die Gutenbergstraße: In der Nummer 105 gründete ein Künstlerkollektiv die „Fabrik“, ein Kulturprojekt. Und ja, Kultur hatte damals einen wichtigen Stellenwert: Das Hans Otto Theater machte sogar gemeinsam mit den Hausbesetzern ein Theaterstück, im Mai ’2 war Premiere im Lindenpark, der Titel: „XII Uhr mittags herrscht Gerechtigkeit. Ein Stück Theater. Ein Stück Leben. Ein Stück Scheiße.“ Es war die Zeit, in der viel ging, viel möglich war, über die Grenzen von Hoch- und Subkultur hinweg. Eine Zeit, die über Jahre Potsdams Ruf als Hort der alternativen Szene weit über die Grenzen Brandenburgs hinaus prägte.

Mit der Zeit wurden zahlreiche weitere Häuser besetzt, vor allem in der Gutenbergstraße. Es entstand ein ganz eigenes, buntes Universum, „wie in einem Kafka-Roman aus den 20er-Jahren“, beschreibt es Sweety. 35 besetzte Häuser gab es 1991 nach offiziellen Zahlen, im Verhältnis zur Einwohnerzahl hatte Potsdam damit die höchste Besetzerdichte Deutschlands – nicht Berlin mit seiner radikalen, viel politischeren Szene.

Räumungen gab es anfangs nicht, zumal die Besitzverhältnisse meistens völlig unklar waren. 1992 wurde die besetzte Gutenbergstraße 107 sogar besenrein übergeben, weil von der Stadt ein Ersatzobjekt angeboten wurde – das dann allerdings nicht kam. Als der damalige Oberbürgermeister Horst Gramlich den Potsdamer Karnevalisten traditionell den Schlüssel zum Rathaus übergeben wollte, versuchten die Hausbesetzer sogar, diesen zu klauen, um das versprochene Ersatzobjekt einzufordern – bekommen haben sie ihn nicht. Als das Künstlerkollektiv die „Fabrik“ in der Gutenbergstraße verließ, weil es ein Ersatzobjekt in der Schiffbauergasse annahm – dort, wo heute die „fabrik“ ist – übernahmen die Hausbesetzer das Objekt. Da knirschte es schon zwischen Hausbesetzerszene und Stadt.

Am 22. September 1993 dann räumte die Polizei die „Fabrik“. Der Tag sollte eine Zäsur in der bislang friedlichen Geschichte der Potsdamer Hausbesetzerszene sein. Jahrelang wurden die Hausbesetzer stillschweigend geduldet, jetzt griff die Polizei mit allen Mitteln durch, auf der anderen Seite flogen Flaschen und Dachziegel, irgendwann brannte das Haus. Die Polizei musste hinterher sogar zurückrudern, den Ruf als Uniformierte mit Gummiknüppeln wurde sie so schnell nicht wieder los: „Knüppeln, zusehen, knüppeln“, titelte die Märkische Allgemeine im März 1994, nachdem Polizisten eine Demo der Hausbesetzer aufgelöst hatten, „Hat die Polizei versagt?“, fragte die B.Z. „Das war eine Truppe von Leuten, die sich juristisch illegal verhalten haben“, verteidigt Peter Schultheiß, der damals Leitender Polizeidirektor beim Polizeipräsidium war, noch heute das damalige Vorgehen. „Die waren schon irgendwie suspekt“, sagt er über die Hausbesetzer.

Die Militanz der Szene habe zugenommen, klagte Oberbürgermeister Gramlich damals, die rote Linie sei überschritten, Nachbarn würden terrorisiert und sanierte Häuser beschädigt. Aber auch die Hausbesetzer waren aufgebracht: „Wir haben heiß diskutiert, wie wir jetzt reagieren“, erinnert sich Sweety. „Üben wir auch Gewalt aus? Oder lassen wir uns einfach räumen?“

Auch der damalige Baustadtrat Detlef Kaminski stand den Hausbesetzern ablehnend gegenüber. Er habe ja versucht, mit freien Trägern nach Ausweichobjekten zu suchen, es habe auch heiße Momente gegeben, als er in frisch besetzte Häuser gegangen sei, um den Dialog zu suchen – weshalb ihm die Polizei „den Kopf gewaschen“ habe, wie er heute sagt. „Ich hatte etwas dagegen, dass sich die gesamte deutsche Hausbesetzerszene in Potsdam versammelt.“ Es habe einen regelrechten Hausbesetzertourismus gegeben. Letztlich sei die Strategie der Härte aber aufgegangen: „Irgendwann haben die zugezogenen Krawallleute das Handtuch geworfen und sind weiter nach Berlin gezogen“, sagt Kaminski. Die Fronten sind geblieben: Das Wohnraumproblem sei nicht hausgemacht, sondern von Krawalltouristen verschuldet? Der Mann, der sich Sweety nennt, schüttelt darüber noch heute nur mit dem Kopf.

Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen, wie so oft. „Es gab aber schon einen Unterschied zwischen Ossis und Wessis“, erinnert sich Oli P., der damals mit seiner Kamera in der Szene unterwegs war. „Die aus dem Westen kamen ja schon mit dem Feindbild Bullenstaat hier an.“ Dass die Eskalation aber von ihnen ausgegangen ist, sei Blödsinn, sagt er.

Am 22. Februar 1994 wurde schließlich die Hegelallee 5, eine ehemalige russische Musikschule, die von einem in Potsdam lebenden Japaner gekauft wurde, geräumt. Zwischenfälle gab es nicht, trotz aller Befürchtungen. Im März sollte ein Konzert im inzwischen abgerissenen „Eisenbahner“ am S-Bahnhof Babelsberg stattfinden, das mit einem Großaufgebot der Polizei verhindert wurde – und am 28. März wurde das heutige Archiv besetzt.

Zu DDR-Zeiten diente das Gebäude, das genau genommen gar kein Archiv ist, als Bezirksfilmdirektion, „ein schrecklicher, dunkler Bunker“, wie sich Sabine Raetsch vom Offenen Kunstverein erinnert. Raetsch war damals für die Kinowerbung in den Schaukästen zuständig. Wenn sie an die Bezirksfilmdirektion denkt, fällt ihr zuerst dies ein: „Einer dieser Parteitypen aus der Kaderabteilung hat sich dort mal das Leben genommen, indem er aus dem Fenster gesprungen ist.“ Ihr Büro lag damals neben dem Thalia-Kino in Babelsberg, zu den Funktionären in der Bezirksfilmdirektion hatte sie aber kaum Kontakt: „Die haben uns eh gehasst, weil wir für die die Künstler waren.“

Nach der Wende verfiel das Haus – bis Angela Basekow von der Arbeiterwohlfahrt es als Ersatzobjekt ins Spiel brachte. Berta Schmidt erinnert sich noch an die Besetzung am 28. März 1994: „Es war ein sonniger Tag, wir haben auf die anderen gewartet – dann haben wir das Schloss geknackt und sind rein. Wir haben aus den Regalen einen Tresen gebaut, dann haben wir die Presse informiert und am Abend gab es das erste Konzert.“

Bis 1997, immerhin drei Jahre, herrschte dort Ruhe, Probleme mit der Stadt und der Polizei gab es zunächst nicht. In der Innenstadt zerbröselte die Szene zwar langsam, aber im Archiv tobte das Leben der Subkultur. Bis zu einem Konzertabend am 22. August 1997: Das Archiv war voll, die schottische Anarcho-Punk-Band Oi Polloi sollte spielen – irgendwie eskalierte es und am Ende brannte draußen ein Bagger, das Chaos tobte.

Die Polizei räumte das Archiv mit einem Großaufgebot, das Gebäude wurde versiegelt. Wer den Bagger angezündet hatte, kam nie heraus. Aber die Leute im Archiv damals, die Szenegänger, glaubten, dass Stadt und Polizei nur auf irgendeinen Vorfall warteten. Verschwörungstheorien gingen um. „Man kann natürlich nicht ausschließen, dass irgendein Besoffener den Bagger in Brand gesetzt hat“, sagt Oli P. „Aber komisch war das schon, und irgendwie hatten wir alle irgendeinen Agent Provocateur in Verdacht.“

So abwegig findet auch Berta Schmidt diese Theorie nicht, zumal nicht nur das Archiv unter permanenter Beobachtung stand: „Einmal stand ein besoffener Typ heulend vor unserer Tür in unserem besetzten Haus in Babelsberg“, erinnert sie sich. „Er sagte, er sei Zivilpolizist und sollte uns seit Monaten beobachten.“ Irgendwann habe er es nicht mehr ausgehalten und geklopft. Schmidt lacht: „Er schlug vor, uns Mädels auf einen Sektabend einzuladen – aber irgendwann ist er nüchtern geworden und verschwunden.“

Mit der Räumung wollten sich die Archiv-Aktivisten nicht abfinden, kurzerhand stürmten und besetzten sie das Büro des damaligen Sozialbeigeordneten. Das war Jann Jakobs, heute ist er Oberbürgermeister. „Es war ein Samstag, als mich der damalige OB Horst Gramlich anrief und sagte: ,Es gibt ein Riesentheater, wir mussten das Archiv räumen’“, sagt Jakobs heute. Alle hätten damals schon sowieso auf Gramlich eingehackt, dass er räumen solle. Jakobs wollte das aber nicht, er wollte Alternativen finden. „Du kannst hier nicht alle mit der Polizei raushauen, dann haben wir hier Bürgerkrieg“, habe er zu Gramlich gesagt. Nur bei Straftaten und wenn Eigentümer ihren Besitz einforderten, sollte er eingreifen lassen.

Er hatte an diesem Tag ein Gespräch vereinbart, habe auch schon was in petto gehabt, erinnert er sich. „Plötzlich kam meine Sekretärin rein und war kreidebleich: ,Herr Jakobs, Ihr Büro ist besetzt.’“ Akten seien aus dem Fenster geflogen, auch ein Fernsehteam des ORB, Vorgänger des RBB, rückte an. Die Polizei musste das Büro aufbrechen, ein großes Säbelgerassel, alle Archiv-Aktivisten wurden festgenommen. „Wir hatten aber einen Entfesselungskünstler dabei“, erinnert sich Berta Schmidt. „Der hat sich und dann ein paar andere wenigstens von den Handfesseln befreien können.“ Danach seien alle ins Gefängnis gekommen: „Das war ein bisschen wie Ferienlager, wir haben alle gequatscht, uns kennengelernt und in der Nasszelle geraucht“, sagt Schmidt. So ist es eben mit der Erinnerung an vergangene Zeiten: Das Positive bleibt hängen.

Während es in der Stadt wochenlang großes Theater und Debatten um die Räumung und überhaupt die Hausbesetzer gab, vermittelte Jakobs weiter. Das Ergebnis: Im November, drei Monate später, gab es das Archiv zurück: mit einem Mietvertrag, der zwar befristet war, aber immerhin mietfrei. Danach waren das Archiv und die Besetzung für die Öffentlichkeit erledigt – zumindest bis Oktober 2008, als das Archiv wegen Brandschutzauflagen vorübergehend geschlossen werden musste. Mittlerweile hat es wieder geöffnet, es gibt sogar einen Erbbaupachtvertrag mit der Stadt, der auf 66 Jahre festgelegt wurde. Viel ist nicht geblieben von der Hausbesetzerkultur, eigentlich gibt es mit dem Kulturzentrum „La Datscha“ im Babelsberger Park nur noch ein Projekt, das richtig besetzt ist – seit 2008. Und einige Wohnprojekte haben auch überlebt: in der Zeppelinstraße etwa, oder in der Uhlandstraße in Babelsberg.

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Berta Schulz hat dieses Idealbild nie losgelassen, sie wohnt auch heute noch in einer Gemeinschaft, Sweety wohnt seit zehn Jahren mit seiner Frau und den Kindern in einer normalen Potsdamer Mietwohnung, so wie die meisten von damals. Fehlt ihm nicht dieser Geist von damals, dieser Aufbruch, die Ideale, dieses Tun? „Das ist keine Sache, der ich nachtrauere“, sagt Sweety, „sondern eine, die mir wirklich fehlt: dieses Ausprobieren, dieser Idealismus, der Wunsch, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.“ Letztlich sei es ein Fehler gewesen, sich den Regeln der Marktwirtschaft zu unterwerfen. „In der Dortu65 gab es irgendwann Verträge, wir mussten bauen und machen. Und an diesem Vertragswerk ist die Gemeinschaft auch zerbrochen. Wenn man einmal anfängt, sich gegenseitig die Arbeitsstunden vorzurechnen, endet es zwangsläufig in einer Katastrophe.“

Der Geist von damals sei in Potsdam verschwunden, findet Sweety. Jetzt sei alles pittoresk und herausgeputzt, nur ganz wenig Raum bleibe für Selbstverwirklichung. Er sei heute oft in Turin, da gebe es noch eine Kultur der Hausbesetzer, auch in Barcelona. Hätten sie damals in Potsdam etwas anders machen müssen? „Wenn alle besetzten Häuser Verträge abgelehnt hätten, dann hätten sie uns gewähren lassen müssen“, sagt er. „Was hätten sie denn tun sollen? Man hätte nichts akzeptieren sollen.“ Der Mann starrt kurz ins Leere, als ihm der Konjunktiv bewusst wird: Es ist vorbei. Zeit sich zu feiern.

Zur Jubiläumsfeier gibt es am Samstag und Sonntag im Archiv Konzerte, Punk und Hip-Hop, samt Party, Leipziger Straße 60. Los geht es jeweils um 20 Uhr. Informationen unter www.archiv-potsdam.de

Oliver Dietrich

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