zum Hauptinhalt
Aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz. Der jüdische Pianist Wladyslaw Szpilman, dargestellt von Adrien Brody, überlebt in Warschau den Zweiten Weltkrieg. Auch die Szenen im Ghetto, der Aufstand im April 1943, wurden in der Kulissenstraße „Berliner Straße“ in Babelsberg gedreht. Der polnische Regisseur Roman Polanski war später erleichtert, diese Aufnahmen nicht in Polen gedreht zu haben.

© Verleih/Tobis

Landeshauptstadt: Der Film ihres Lebens

Seit 1912 wird in Babelsberg Kino gemacht. Die PNN haben zum Potsdamer „Jahr des Films“ zwölf wichtige Babelsberg-Filme ausgewählt und erzählen ihre Geschichten: Meilensteine auf dem Weg von der Wiege des deutschen Films zum Hollywood der Republik. Heute Teil 11: „Der Pianist“

Es waren 84 Tage, die Leben veränderten. Sie begannen an einem 19. Februar in der Kaserne „Fuchsberge“ in Jüterbog. Dort fiel die erste Klappe für einen Film, dessen Bilder sich einbrennen. Dessen Wucht nie nachgelassen hat. Ohne den es Studio Babelsberg, wie es heute ist, nicht geben würde. Es war genau vor zehn Jahren, als Roman Polanski „Der Pianist“ drehte. Den Film seines Lebens.

Pawel Edelman war damals dabei. Er führte die Kamera. Der Pole ist ein entschiedener Mann, sanft zugleich. Licht, Schatten, Schemen, Kontraste, er ist ein Virtuose der Bilder. „Einen solchen Film zu machen“, sagt Edelman, „verändert das Leben.“ Der „Pianist“ habe ihn erwachsen gemacht.

Als der Film im Mai 2002 in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wird, ist Henning Molfenter 32 Jahre alt. Er sitzt in der Premierenvorführung, der Abspann ist vorüber, Applaus brandet auf. Minutenlang. Molfenter, einer der Produzenten, ist sich in diesem Moment ganz sicher: Er erlebt gerade das Größte seiner Karriere. Heute ist Molfenter Chef der Babelsberger Filmproduktionsfirma „Studio Babelsberg Motion Pictures“. Seit damals hat er viele Hollywood-Filme produziert, einige haben Oscars gewonnen. Doch Molfenter ist heute so entschieden wie vor zehn Jahren: „,Der Pianist’ ist der wichtigste Film. Für Polanski, für Babelsberg, für mich.“

Alles beginnt, als eine Freundin Polanskis 1999 auf einem Flughafen das Buch von Wladyslaw Szpilman entdeckt. Polanski liest „Das wunderbare Überleben“, und nach nur wenigen Seiten hat er sich entschieden. Es soll sein nächster Film sein, der Film sein, den er bisher nicht zu drehen gewagt hatte – er, der als siebenjähriger Junge dem Krakauer Ghetto entkommen ist, dessen Mutter in Auschwitz ermordet wurde, der sich immer gewehrt hatte, sich seinem Lebenstrauma zu stellen. Die Regie für „Schindlers Liste“ hatte er abgelehnt.

Doch das Buch des Pianisten Szpilman, dessen Familie in den Gaskammern Treblinkas stirbt, der kurz nach Kriegsende in 46 Tagebüchern niedergeschrieben hatte, wie er in Warschau den Holocaust überlebte, den der deutsche Offizier Wilm Hosenfeld rettete, nachdem er sein Klavierspiel gehört hatte, überzeugte Polanski. „Das Buch ist voller Hoffnung und Optimismus“, erklärte er, als er wenige Tage vor Drehbeginn in Babelsberg eine Pressekonferenz gab.130 Journalisten aus aller Herren Länder waren gekommen, in Berlin fanden gerade die Filmfestspiele statt. Polanski erzählte ihnen auch, dass er den in Polen sehr bekannten Pianisten Szpilman schon vor Jahren zweimal persönlich getroffen hatte. Doch habe er nicht geahnt, dass er jemals dessen Geschichte verfilmen würde.

Vor Drehbeginn las Polanski der Filmcrew das Drehbuch vor. Wort für Wort, in einem Raum im Haus 8 auf dem Babelsberger Studiogelände. Nie zuvor und nie wieder habe er so etwas erlebt, sagt Pawel Edelman, der Kameramann. Polanski habe die Crew auf diese Weise „eingeschweißt in den Film“, erinnert sich Molfenter. Es war eine Koproduktion, miteinander arbeiteten 240 Polen, Deutsche, Franzosen und Engländer. Polanski habe Spannungen verhindern wollen, auch Schuldgefühle der Deutschen, sagt Molfenter. „Versöhnung ist die Botschaft des Films – Polanski hat sie am Set gelebt.“

Dass es seine persönliche Geschichte war, haben alle gespürt beim Dreh. „Er war angespannt“, sagt der Produzent. Polanski habe mit seinen eigenen Erinnerungen gearbeitet, so Kameramann Edelman. „Es war eine Stimmung, er hatte sie in seinem Kopf.“ Es sei eine der härtesten Szenen für den Regisseur gewesen, sagt Molfenter, als er drehen ließ, wie Wehrmachtssoldaten die Leichen Aufständischer des Warschauer Ghettos auf einen Haufen zerren, sie anzünden, die Flammen züngeln. „Alles, was ich vorher gemacht hatte, kam mir vor wie eine Probe für diesen Film“, sagte Polanski, als er im Februar 2009 im Potsdamer Filmmuseum zu Gast war.

Manche Filmkritiker waren anfangs überrascht, einige enttäuscht, wie kühl „Der Pianist“ erzählt ist, wie unpathetisch er wirke. Doch Polanski hatte sich auf seine Perspektive, seine Sprache früh festgelegt, sagt Pawel Edelman. Er habe alles so simpel, so realistisch, so objektiv wie möglich darstellen wollen. Er verlässt nicht ein einziges Mal die Perspektive seines Protagonisten, des Pianisten Szpilman. Damit blieb Polanski der Vorlage sehr treu. Szpilman hatte seine Erinnerungen sofort nach Kriegsende aufgeschrieben, sie setzen sich aus Augenblicken zusammen. Er stellte nicht die Frage nach dem Warum, er urteilte nicht, er sparte nichts aus. Dass Polanski ihm dabei folgte, habe dazu geführt, dass sein Film als „kunstlos“ bezeichnet worden sei, hieß es damals in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Doch es sei ihm eine künstlerische Leistung gelungen, die im Kino zu den schwierigsten zähle: Wahrhaftigkeit zu erzeugen.

Die Orte, Schauplätze und Kulissen dafür zu bieten war vor allem Henning Molfenters Aufgabe. Dafür hatte ihn Rainer Schaper, damaliger Geschäftsführer der Studio Babelsberg GmbH, von New York nach Potsdam geholt. Schaper habe gewusst, dass Babelsberg eine Chance haben würde bei Polanskis Suche nach Drehorten und Produktionspartnern, sagt Molfenter – und dass der 38 Millionen Euro teure Film den Traditionsstandort, der nach der Wende in einen Dornröschenschlaf gefallen war, zum Leben erwecken könnte. Molfenter, der in New York Filmproduktion studiert, mit Regisseuren wie Milos Forman gearbeitet hatte, schien Schaper der Profi zu sein, der das vor sich hindämmernde Babelsberg fit machen könnte für eine internationale Koproduktion – die erste dieser Art überhaupt in der Nach-Defa-Zeit.

Molfenter erinnert sich gut an die anfänglichen Verhandlungen mit Polanski und seinen Produzenten, dem Franzosen Robert Benmussa und dem Polen Lew Rywin, im Haus 8 in Babelsberg. Polanski habe gewusst, dass er für diesen Film Partner aus Deutschland brauche, sagt Molfenter – der Regisseur selbst erklärte später, er hätte es nicht vermocht, die brutalen Szenen auf polnischem Boden zu drehen. Bei den Produzenten, sagt Molfenter, habe die Zusage der Babelsberger, die Kulissenstraße „Berliner Straße“ zum Festpreis zum Warschauer Ghetto umzubauen, den Ausschlag gegeben. Den Entwurf für die Häuserzeile aus der Feder des Produktions-Designers Allan Starski, der für „Schindlers Liste“ mit dem Oscar ausgezeichnet worden war, bewahrt Molfenter griffbereit im Büro. Das Papier trägt die Unterschrift Polanskis, ebenso wie Starskis Entwurf für das in Trümmern liegende Warschau.

Dieser Anblick gehört zu den beeindruckendsten Momenten des Films, die Kulisse ist unwiederbringlich. Molfenter und seine Scouts fanden sie in Jüterbog, in der ehemaligen Rote-Armee-Kaserne „Fuchsberge“, die dieser Tage endgültig abgerissen wird. Die Filmcrew konnte dort präzise erschaffen, was Starski gezeichnet hatte: Mit Baggern, erzählt Molfenter, seien die dreistöckigen Häuser vorsichtig eingerissen worden. Mit einem Kameraschuss vom Kran auf die Trümmer, von frisch gefallenem Schnee zart bedeckt, begannen am 19. Februar 2001 die Dreharbeiten. Hauptdarsteller Adrien Brody, damals ein wenig bekannter US-Nachwuchsschauspieler, den Polanski engagiert hatte, nachdem er in London unter 1400 Bewerbern vergeblich nach einem Laiendarsteller gesucht hatte, spielte den Pianisten. Vor Drehstart hatte er 15 Kilogramm abgenommen, war abgemagert bis auf die Knochen, Haare und Bart lang gewachsen. Gedreht wurde rückwärts, beginnend mit dem Ende des Films, um die physische Wandlung des Schauspielers zu ermöglichen. Nach 36 Drehtagen im Studio Babelsberg, in der damals verfallenen Villa in der Potsdamer Glumestraße 4, in Beelitz-Heilstätten und in Jüterbog zog die Crew für 48 Tage nach Warschau.

Nicht alles in der Vorbereitung des Films verlief so glücklich wie das Erschaffen der Trümmer-Kulisse. „Ich habe gespürt, dass hier in Babelsberg verdammt viel Potenzial ist“, erinnert sich Molfenter. Doch das Studio sei damals „eine kleine, verträumte Wunschwelt“ gewesen, in der viele sich auf die große Geschichte verlassen hätten. Vor Drehstart sei er oft „schreiend über das Studiogelände gelaufen“, habe sich bei Mitarbeitern unbeliebt gemacht, um wachzurütteln. Mit Erfolg. „Der Samen für alles, was heute hier ist, war ,Der Pianist’“, sagt Molfenter. Nach der Goldenen Palme in Cannes gewann der Film 2003 drei Oscars, für die beste Regie, den besten Hauptdarsteller und das beste Drehbuch. Das öffnete Türen in Hollywood. Es folgte der Auftrag für die 120-Millionen-Dollar-Produktion „In 80 Tagen um die Welt“ und kurz darauf entschied das US-Studio Universal, seinen Blockbuster „Die Bourne Verschwörung“ mit Studio Babelsberg zu drehen. „Das war das amtliche Hollywood-Gütesiegel“, sagt Molfenter. „Und jetzt haben wir hier diese Wahnsinnsmaschine, die jederzeit angeworfen werden, zwei, drei, vier Filme parallel produzieren kann.“ Eigentlich hatte er nach dem Dreh mit Polanski sofort wieder nach New York zurückkehren wollen. Molfenter blieb.

Und Roman Polanski kam wieder. Vor drei Jahren drehte der heute 77-Jährige in Babelsberg und an der deutschen Küste den Thriller „Der Ghostwriter“. Die Kamera führte Pawel Edelman. Einer der Produzenten war Henning Molfenter.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false