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Landeshauptstadt: Der 100-Kilo-Korken

Vor 80 Jahren ging Carl von Ossietzky an dieser Stelle ein und aus, jetzt lässt Heinz Mielke Menschen schwerelos im Wasser schwimmen

Diesen Weg ist Carl von Ossietzky hundertfach gegangen: Aus dem Café Heider raus zum Nauener Tor, von wo aus er in die Hegelallee und einige Schritte später links in den Hof einbog, um seine Texte in der Druckerei Stein abzugeben. Heute erinnert nichts mehr an den Ort, an dem der spätere Friedens-Nobelpreisträger Ossietzky im März 1929 in seiner Zeitung „Weltbühne“ die verbotene Aufrüstung der Reichswehr veröffentlichte. Inzwischen ist selbst der historische Schriftzug der Druckerei am Vorderhaus verschwunden, nichts erinnert mehr an jenen Ort des publizistischen Widerstandes. Moderne Schilder mit Bikram-Yoga, Relaxx und Float bedruckt weisen den Weg ins Hinterhaus, einem alten Ziegelbau. Heute können selbst 100 Kilogramm schwere Männer wie Korken im Wasser liegen, wo einst tonnenschwere Maschinen standen.

Float heißt das Geheimnis, bei dem man sich, egal welcher Statur, leicht wie eine Feder fühlt. Entspannung pur nennt es Heinz Mielke, der die Gäste in seinem Studio begrüßt. Die Wände sind weiß, der Fußboden als Kontrast dazu im dunklen Braun gehalten. Nur ein Bild hängt an der Wand, einer der Sessel im Eingangsbereich ist rot. Minimalismus, so wenig wie möglich Reize für das Gehirn, ist der Sinn. Kurze Zeit später wird einem klar, dass selbst eine kahle Wand ein buntes Feuerwerk sein kann.

Im Raum nebenan hat das Wasser 35 Grad Celsius. Es wabert in einem überdimensionierten Ei, auf das selbst der Turiasaurus als größter Dinosaurier Europas stolz hätte sein können. Knapp drei Meter lang und halb so breit steht der schneeweiße Apparat auf den dunklen Schieferplatten, der bei geschlossenem Deckel schalldicht und absolut dunkel ist. Eine ungewohnte Situation für Menschen, die zwölf Stunden am Tag arbeiten, Stress ausgesetzt sind, telefonieren und permanent auf einen Bildschirm schauen müssen, der in 100-Hertz-Frequenz flimmert. Egal, rein. Sekunden später ist es dunkel, still, angenehm warm und – sogleich ein bisschen langweilig. Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen – die drei weisen Affen. Ausgerechnet auf dem Gelände, von dem aus Ossietzky einst publizierte und später wegen Geheimnisverrates verurteilt worden ist. Die Gedanken kreisen und kommen zu der Frage, was John Lennon an dem Bad so toll gefunden hat.

Der britische Sänger war ein Anhänger des Floating, das es in dieser Form schon seit 54 Jahren gibt. John C. Lilly, ein US- amerikanischer Wissenschaftler, hat es in Zusammenarbeit mit der NASA entwickelt und wollte die Aktivität des Gehirns untersuchen, wenn es völlig von Außenreizen abgeschirmt ist. Er fand heraus, dass es dann in einen besonderen Entspannungszustand gerät, vergleichbar einer Trance. Seit den 1980er Jahren wird intensiv an den Wirkungen durch Floaten geforscht, die Ergebnisse sind positiv: Bei längerer Anwendung wird ein sinkender Blutdruck attestiert, ebenso eine stärkere Aktivität der sonst von der linken Hirnhälfte übertrumpften „kreativ-emotionalen“ rechten Hemisphäre, Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin werden geringer und das Schmerzempfinden lässt nach.

Heinz Mielke kennt dieses Gefühl des Loslassens, der absolutem Unabhängigkeit in diesem Brutkasten. Er ist selbst zwanzig Jahre als Vertreter von Sauna- und Wellnessanlagen durch die Gegend gefahren, ist im Auto von Termin zu Termin gerast und war Sklave des Mobiltelefons. Das war früher: Inzwischen hat Heinz Mielke entschleunigt und ein neues Leben gefunden. Schon länger hatte er den Gedanken, ein Float-Center zu eröffnen, Berlin hatte der Bayer sich ausgesucht. Das er dann in Potsdam gelandet ist, hat er einem Besuch in der Stadt zu verdanken: „Danach wollten wir nicht mehr nach Berlin“. Jan Brunzlow

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