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Handwerk im Hinterhof. Auszubildende Julia Warnecke (l.) und Johanna-Elisabeth Nehm an einem Webstuhl. Am Samstag konnten Interessierte das Atelier in der Geschwister-Scholl-Straße 77 besuchen.

© Klaus-Dietmar Gabbert/dapd

Landeshauptstadt: Das Spiel der Fäden

Johanna-Elisabeth Nehm zeigte eine selten gewordene Handwerkskunst

Potsdam-West - Wenn Johanna-Elisabeth Nehm von ihrer Arbeit spricht, jongliert sie mit Begriffen wie Schussdouble, Leinwandbindung, Kontermarsch und Prisma als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Dabei ist ihr Beruf zur Rarität geworden: Die Potsdamerin ist eine von zwei Weberinnen, die es laut Handwerkskammer im Land Brandenburg gibt. Gemeinsam mit mehr als 400 anderen Unternehmen präsentierte sich die Handweberei „JEN“ am Samstag beim landesweiten Tag des offenen Unternehmens. Seit anderthalb Jahren befindet sich die Weberei auf einem Hinterhof in der Geschwister-Scholl-Straße. Zweieinhalb Treppen hinauf, und der Besucher steht in einem Atelier, in dem es nach altem Holz und frischen Stoffen riecht. Der einzige männliche Mitarbeiter ist über ein halbes Jahrhundert alt und heißt Klaus. Es handelt sich um einen Webstuhl aus der einstigen Textilfabrik Babelsberg, einem Potsdamer Traditionsunternehmen, das die Wende 1989 nicht überlebt hat. Den anderen sechs Webstühlen im Atelier hat Nehm Frauennamen gegeben.

Dem unkundigen Besucher erscheinen die hölzernen Konstruktionen mit ihren Pedalen, Fächern, Griffen und Zahnrädern kompliziert wie ein Uhrwerk. Johanna-Elisabeth Nehm indes bedient mit leichten Bewegungen die Apparatur und komponiert dabei im Takt der Arbeitsabläufe eine wiederkehrende, hölzerne Melodie. Weberin wollte Nehm schon zu DDR-Zeiten werden. „Doch das sollte nicht sein“, erinnert sie sich. Stattdessen machte sie „Sozialarbeit“, wie sie es nennt. Die Web-Kunst lernte sie schließlich in der bis dahin einzigen Brandenburger Handweberei in Geltow. Ein geschützter Berufstitel ist der des Webers nicht, er taucht auch nicht in der Handwerkerrolle auf, also als Betrieb, der einer offiziellen Zulassungs- und Anmeldepflicht unterliegt. Dennoch absolvierte Nehm eine dreijährige Ausbildung.

„Das Praktische beherrscht man nach einem halben Jahr. Aber die Kunst, die Fäden miteinander spielen zu lassen, entdeckt man immer wieder neu“, sagt die Weberin. Ihr Meisterstück soll ein Kleid werden. Der türkisfarbene Stoff, den sie dafür webt, ist aus Baumwolle und Leinen. Etwa 40 Stunden habe es gebraucht, bis die Gewebeplanung, die Materialwahl, die Musterfertigung und die Einrichtung des Webstuhls fertig waren. „Das Weben selbst ist dann wie eine Belohnung“, sagt Nehm. Ihr Hauptauftraggeber sei die Leidenschaft, sagt die Potsdamerin. Sie webe in erster Linie für sich. Doch natürlich wolle sie mit ihrer Arbeit auch Geld verdienen, und das gelinge immer besser. Es seien ganz normale Leute, die Stoffe für Kleider, Tischdecken oder Gardinen bei ihr in Auftrag geben und ein Produkt im persönlichen Stil aus natürlichen Materialen bekommen. „Irgendwann stehen die Leute hier Schlange“, ist Nehms Überzeugung. Noch aber reicht der Umsatz nicht, um einen Lehrling zu bezahlen.

Zwar lernt Juliane Warnecke seit fast einem Jahr als Praktikantin das Weberei-Handwerk in dem Atelier. Doch eine Vergütung bekommt die 22-Jährige nicht. Das Problem fehlender Unterstützung bei der Ausbildung von Nachwuchskräften hat Johanna-Elisabeth Nehm nicht allein. So bedauert Simone Kahle, Ausbildungsberaterin bei der Handwerkskammer, dass das Zukunftsbündnis Aus- und Weiterbildung im Handwerk (ZAH) bei der Finanzierung von Lehrlingen nicht mehr mit staatlichen Mitteln unterstützt werde. „Auch das Land sieht keine finanzielle Unterstützung vor für Betriebe, die ausbilden wollen“, sagt Kahle.

Der Tag des offenen Unternehmens hat Brunhild Holtz in Nehms Handweberei geführt. Die Besucherin erzählt, dass sie früher als Ökonomin in der Textilindustrie tätig war und sich nach der Wende selbst als Weberin versucht habe. Doch dann sei die ganze Textilindustrie plattgemacht worden. Neugierig und fasziniert streift die Frau durch das Atelier und lässt sich von Handweberin Nehm versichern: „Es gibt zunehmend Leute, die wertschätzen, was wir machen.“ Peter Könnicke

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