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Brandenburg: Zeiten Wende in Brandenburg

Keine Verfassung, keine Gesetze, aber ein Feiertag zur Reformation: Vor 23 Jahren bekam das junge Brandenburg eine Regierung. Wie eine funktioniert, sollte sie lernen von Leuten wie Jürgen Linde, dem ersten Chef der Staatskanzlei. Und der stellte fest: „Sie haben demokratischer gedacht als die Westler.“

Als Jürgen Linde 1990 das erste Mal nach Brandenburg fährt, hatten es 60 000 der 2,6 Millionen Einwohner gerade verlassen. Es ist Mitte Oktober, seit zwei Wochen existiert die DDR nicht mehr – zwei Wochen zuvor existierte das Bundesland Brandenburg noch nicht.

Mehr als 3000 Seen gibt es dort und so viele Alleen wie sonst nirgends in der Republik. Aber die Seen sind von Abflüssen aus Stahl- und Chemiefabriken verseucht, das Baden ist oft verboten. Und auf den Straßen krachen jeden Tag durchschnittlich 115-mal Autos ineinander, zwei Menschen sterben täglich dabei. Die Häuser zerfallen, nur jeder zehnte Einwohner hat ein Telefon. Der Verfassungsschutz zählt 550 Skinheads. Wölfe gibt es keine. Auch wenn sich in den Jahren zuvor immer wieder einzelne Tiere aus Polen hierher verirrt hatten.

Eben wurde der erste Landtag gewählt, ein Kabinett gibt es noch nicht. Sicher ist nur, wer Ministerpräsident sein wird: Manfred Stolpe, der frühere Konsistorialpräsident der Evangelischen Kirche Berlin Brandenburg und stellvertretende Vorsitzende des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR. Brandenburg ist das einzige neue Bundesland, in dem die SPD regieren wird.

Am Morgen hatte in Jürgen Lindes Büro das Telefon geklingelt. Wolfgang Clement, damals Staatskanzleichef in Nordrhein-Westfalen, ist am Apparat: „Wir fahren heute Abend zu Stolpe“, sagt er. Die Order kommt direkt von Clements Chef Johannes Rau. Linde, der nach Jahren als Oberstadtdirektor in Gelsenkirchen nun den Abfallentsorgungsverband Nordrhein-Westfalen führt, soll in Brandenburg die Staatskanzlei leiten. Schließlich kennt er sich aus mit strukturschwachen Gebieten. Und sein Posten bei der Abfallwirtschaft füllt ihn ohnehin nicht aus.

Noch in derselben Nacht sitzt er in Potsdam, in einem Zimmer des Interconti-Hotels auf einem Bett neben Stolpe. Mancher von Stolpes Ministern wird ihn später als arroganten Wessi empfinden. Aber zu diesem Zeitpunkt ist sich Jürgen Linde längst nicht sicher, ob er den Job bekommt. Dass er zu einem Vorstellungsgespräch nach Potsdam gefahren ist, hat er seiner Frau sicherheitshalber nicht verraten. „Sonst hätte ich ihr nachher noch sagen müssen: Die wollen mich nicht“, erzählt der inzwischen 78-Jährige. Stolpe wollte ihn. Und so wurde Linde so etwas wie der Demokratie-Lehrer Brandenburgs.

Ein warmer Herbsttag im vergangenen Jahr: Jürgen Lindes Haar ist weiß geworden, sein Gesicht schmaler und kantiger. Vielleicht liegt es nur an seinem grauen Anzug, aber er sieht aus, wie man sich einen Verwaltungsbeamten vorstellt. Obwohl er längst im Ruhestand ist. „Ich war schon ewig nicht mehr hier“, sagt er und betritt seinen ehemaligen Arbeitsplatz durch den Hintereingang. Er will seinem Besuch zeigen, wo damals alles begann.

Die Staatskanzlei in Potsdam ist ein imposanter neobarocker Bau. Der Portier hat Linde entdeckt. „Herr Doktor Linde, Sie hier!“, ruft er und verlässt seinen Glaskasten, um ihm die Hand zu schütteln. „Die Haare sind aber weniger geworden“, antwortet der. Jeden, dem Linde im Treppenhaus begegnet, begrüßt er mit Handschlag und Namen.

Eine Woche nach dem nächtlichen Gespräch mit Stolpe, am 31. Oktober 1990, Punkt neun Uhr, stand Linde dann mit einem Siemens-Schreibautomat und seiner Sekretärin vom Abfallverband das erste Mal vor der Tür der Staatskanzlei. Sie war verschlossen: Reformationstag – das Land hatte noch keine Regierung, keine Verfassung, keine Gesetze. Aber es hatte einen Feiertag.

Wie Linde reisten Tausende Berater aus den alten in die neuen Bundesländer. Sie kamen, um das neue System zu lehren: Polizisten, Richter, Verwaltungsfachleute. Allein nach Brandenburg kamen mehr als 5000 Aufbauhelfer – die meisten aus Nordrhein-Westfalen, dem offiziellen Partnerland Brandenburgs.

Überhaupt war der nordrhein-westfälische Ministerpräsident der Grund, warum Stolpe in die SPD eingetreten ist. Auch die CDU hatte nach der Wende um den bekannten DDR-Kirchenmann gebuhlt. Aber damals sprachen fast alle in den großen Parteien davon, dass der Osten innerhalb von vier Jahren aus dem Gröbsten raus sein würde. Stolpe fürchtete sich vor so viel Euphorie. Johannes Rau sei der Einzige gewesen, der ähnlich dachte wie er. „Rau sagte zu mir: Wir haben im Ruhrgebiet 30 Jahre zu tun, ihr braucht bestimmt auch 30“, erklärt Stolpe. Das Café, in dem er sitzt, gehört zum Seniorenstift, in dem der heute 77-Jährige vergangenes Jahr mit seiner Frau ein Apartment bezogen hat. Mit Havelblick.

Der Kellner hat ihm seinen Cappuccino mit einem Kakaoherz verziert. Daneben liegt ein Ringbuch mit Notizen, Erinnerungen an die ersten Tage seines Landes. 22. November 1990: Brandenburg hat die erste deutsche Ampelkoalition. Im Sitzungssaal des Landtags wird Stolpes Kabinett vereidigt – wenige Wochen bevor der Saal wegen Einsturzgefahr gesperrt wird. Die Minister gibt es nun, jetzt fehlen nur noch die Ministerien. Aber in der baufälligen Staatskanzlei stehen genug Räume leer. Drei Tage später hat Marianne Birthler vom Bündnis 90 ein Zimmer für sich und ihre fünf Mitarbeiter gefunden. Sie malt ein Schild und klebt es an die Tür: „Bildungsministerium“ steht darauf.

Auch in sein Kabinett hat sich Stolpe Helfer aus dem Westen geholt – etwa Hans-Otto Bräutigam, für das Justizressort. Bräutigam, bis 1989 Leiter der Ständigen Vertretung in Ostberlin, war gerade UN-Botschafter in New York geworden. Als Stolpe ihn am Telefon bittet, nach Brandenburg zu kommen, sagt Bräutigam nach zwei Tagen Bedenkzeit zu.

Mit ihm steht es vier zu sechs. Vier Minister kommen aus den alten, sechs aus den neuen Bundesländern. Die aus dem Osten verdienen 7546 D-Mark, die aus dem Westen das Doppelte.

Jürgen Linde fällt ein ganz anderer Unterschied auf: „Die Ostminister haben demokratischer gedacht als die Westler“, sagt er. Sie waren noch vor einem Jahr für ihre Freiheit auf die Straße gegangen. Demokratie hatten sie sich gerade erst erkämpft. „Wir haben sie sehr ernst genommen“, sagt Matthias Platzeck – zu diesem Zeitpunkt ist der SPD-Politiker noch Ministerpräsident und auf dem Weg zu einer Schule, an der er Warnwesten an Erstklässler verteilen soll. Vor 23 Jahren war er Umweltminister und Bündnis-90-Mitglied. Dieses Jahr wird er 60. Mittlerweile hat er sich aus der Politik verabschiedet. Nach elf Jahren als Landesvater, zwei Hörsturzen und dem Schlaganfall in diesem Sommer.

„Über Demokratie musste man uns aus der evangelischen Kirche nicht belehren“, sagt auch Stolpe. Er klingt immer noch staatsmännisch. Und ein bisschen trotzig. Über Demokratie nicht, aber wie der Demokratiebetrieb funktioniert, schon. Das war vor allem die Aufgabe von Jürgen Linde und den Staatssekretären der neuen Minister. Die hatten zwar meist Ahnung von ihren Fachgebieten – Platzeck etwa hatte zuvor in Potsdam als Abteilungsleiter für Umwelthygiene gearbeitet und Birthler als Jugendreferentin im Berliner Pfarramt. Aber vom Regieren?

„Oh Gott, jetzt bin ich Ministerin. Was mach ich denn jetzt?“, soll Birthler gefragt haben, nachdem klar war, dass sie den Posten bekommt. Sie selbst kann sich nicht daran erinnern. Aber dass sie damals so reagiert hat, hält sie für wahrscheinlich. „Ich wusste ja kurz vorher nicht einmal, was ein Staatssekretär ist“, sagt sie am Telefon. „Die meisten von uns waren Lernende.“

Es war dann übrigens Birthlers Staatssekretär, der der späteren Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen beispielsweise beibrachte, „dass man Entscheidungen nicht spontan trifft, sondern den Weg dorthin für andere nachvollziehbar festhält.“ Selbst für Stolpe, dem Gremien und Verwaltungen durch sein Kirchenamt vertraut waren, war einiges neu. „Stolpe war ja sehr genau“, beschreibt Linde seinen früheren Chef. Noch vor Amtsantritt seien die beiden darum durchgegangen: Wie muss eine Tagesordnung aussehen, wie ein Protokoll? Wie wird abgestimmt? Wer sitzt wo? „Wir haben einmal durchgespielt, wie das geht, was zu machen ist“, erzählt Linde. Bei der Übungskabinettssitzung mit fiktiver Tagesordnung hätten die Staatssekretäre die Plätze der Minister eingenommen. Und dann war da noch eine Frage, auf die auch Linde keine Antwort wusste: „Heißt es Kabinettsitzung oder Kabinettssitzung mit zwei s?“ Er fragte beim Bundestag nach. „Ob sie in Brandenburg nichts Besseres zu tun hätten?“, lautete die Antwort. Es heißt Kabinettssitzung.

Aber es gibt auch Tage, an denen müssen Linde die ostdeutschen Regierungsmitglieder unbelehrbar vorgekommen sein. Platzeck zum Beispiel. Gleich bei dessen erster Amtshandlung geraten die beiden aneinander: Der Umweltminister holt sich einen Staatssekretär aus Brüssel, einen CDUler. Für den SPD-Mann Linde ein Unding. Platzeck erinnert sich: „Junger Mann“, habe Linde zu ihm gesagt, „so geht das ja nicht.“ Platzecks Empörung ist heute noch zu hören.

Auf den Zwischenfall angesprochen, lacht Linde auf. „Ja, ich fand das etwas befremdlich“, gesteht er. Parteipolitik spielt in den ersten Monaten der jungen Regierung so gut wie keine Rolle – weder im Kabinett noch im Landtag. Gleich mehrere Gesetze werden fast einstimmig beschlossen. Es ging schließlich um Wichtigeres: „Wir wurden gewählt, damit das Land nicht zusammenbricht“, erklärt Platzeck. Vor allem mussten sie es erst einmal erschaffen.

An Schlaf war da kaum zu denken. „Wir standen die ganze Zeit unter Adrenalin“, erzählt Platzeck. Dass er müde war, habe er erst bemerkt, als er sich am Nachmittag des 31. Dezember 1990 kurz hingelegt hatte, um für die Silvesterparty etwas vorzuschlafen. Wieder aufgewacht ist er mittags am Neujahrstag 1991.

Die Regierung arbeitet täglich 14 Stunden und mehr, die Kabinettssitzungen dauern selten weniger als fünf. Es wird gestritten, oft heftig, sagen die, die dabei waren – oft auch noch nach den Sitzungen. Bräutigam erinnert sich, wie die inzwischen verstorbene Regine Hildebrandt, damals Sozialministerin, in sein Büro stürmte, wenn ihr etwas nicht passte. „Das Arbeitsklima war vorzüglich“, sagt er. Marianne Birthler, die in den Kabinettssitzungen neben ihm saß, sagt: „Es war toll“ und spricht von der Solidarität zwischen den Kollegen. „Wir mussten nicht rivalisieren. Jeder von uns hatte mehr als genug zu tun.“ Und Platzeck zitiert frei nach Hermann Hesse: „Allem Anfang wohnt ein Zauber inne.“ Ironie ist nicht zu spüren.

Es gab auch andere Momente. Die Kalender der Minister waren voll mit Abschiedsbesuchen in schließenden Betrieben. Irgendwann hatten nicht einmal mehr 650 000 Brandenburger einen richtigen Arbeitsplatz. Die Regierung machte Fehler, die wie der fehlgeplante Flughafen Berlin-Schönefeld heute noch Schlagzeilen machen. Und später zerbrach sie. Birthler ging 1992, als Stolpes Stasi-Kontakte bekannt wurden, Bauminister Jochen Wolf trat 1993 nach einem Immobilienskandal zurück.

Mittlerweile ist die Staatskanzlei saniert. „Darauf bin ich am meisten stolz“, sagt Linde. Er hat die Bauarbeiten organisiert. Brandenburg führt zurzeit das Länder-Dynamik-Ranking der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft an. 54 Menschen starben dort 2012 bei Verkehrsunfällen. Rechte Gewalt ist immer noch ein Problem. Und in den vergangenen Jahren sind in Brandenburg mindestens 31 Wolfswelpen geboren worden.

Juliane Wedemeyer

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