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Interview zum Flüchtlingsheim in Hellersdorf: „Vernünftige sind in der Überzahl“

Pater Pflüger vom Flüchtlingsdienst der Jesuiten spricht im PNN-Interview über Bürgerängste und die Nöte von Asylbewerbern.

Erst haben Rechtsradikale eine Bürgerversammlung in Hellersdorf gekapert, dann marschierte die NPD an Orten auf, an denen Asylbewerber leben oder einziehen sollen. Fürchten Sie, dass die Konflikte um die Flüchtlinge in Berlin ausufern?

Nein, denn ich glaube, es gibt in Berlin genügend vernünftige Leute und auch Menschen, die sich für Flüchtlinge einsetzen. Ich fürchte nicht, dass die Berliner sich verleiten lassen. Die Vernünftigen sind in der Überzahl – auch wenn die Mehrheit oft schweigt.  Doch Stimmungen können sich auch ändern. Während anfangs sehr viele die Duldung des Flüchtlingscamps auf dem Oranienplatz als Gebot der Menschlichkeit sahen, wächst allmählich der Ärger, denn genau genommen ist es illegal.

So ein Flüchtlingscamp als Dauerzustand kann kein Ziel sein, auch wegen der schlechten Bedingungen für die Bewohner. Dazu muss den Betroffenen allerdings eine annehmbare Alternative angeboten werden. Vor allem aber verstehe ich es als berechtigten Protest gegen die Verhältnisse, die Flüchtlinge in Deutschland vorfinden.

Pater Frido Pflüger (66) ist Direktor des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes, Flüchtlingsseelsorger im Erzbistum Berlin und ehemaliger Schulleiter.

Läuft beim Umgang mit den Flüchtlingen hierzulande etwas grundsätzlich falsch?

Ja, denn seit der Asylrechtsänderung 1993 läuft alles darauf hinaus, Flüchtlinge abzuweisen. Dazu gehört auch das Arbeitsverbot, das die Menschen zermürbt und seelisch krank macht. Zugleich werfen wir ihnen vor, dass sie uns auf der Tasche liegen. Wir erleben das immer wieder in unseren Beratungen, dass das die Leute fertigmacht.

Ist die Residenzpflicht im jeweiligen Bundesland sinnvoll?

Die ist überholt und lässt sich auch weniger einschneidend regeln. Sie ist so unwürdig wie die Sachleistungen, die Flüchtlinge statt Geld bekommen. Dadurch können sie sich nicht einmal aussuchen, was sie essen und anziehen. Aber ich gebe zu, dass Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern – allen voran Griechenland und Italien – immerhin überhaupt noch etwas für Flüchtlinge tut.

Tun die Berliner Behörden das Richtige, um die Anwohner rings um die neuen Flüchtlingsunterkünfte zu gewinnen?

Die Bürger müssen unbedingt frühzeitig und klar informiert werden, damit die Stimmung nicht umschlägt. Außerdem brauchen die Flüchtlinge mehr Berater, die ihnen helfen, sich hier zurechtzufinden. Sonst hören sie auf den Flurfunk, der ihnen beispielsweise einredet, sie müssten ihre Identität verheimlichen – obwohl das unter Umständen alles nur schlimmer macht. Und für die Berliner gehört auch die Information über die Polizeistatistik dazu: Wenn Asylsuchende bei der Polizei auffallen, dann oft nicht wegen Diebstahls und dergleichen, sondern weil sie gegen die Residenzpflicht oder gegen das Arbeitsverbot verstoßen – also gegen eine absurde Rechtslage, die nur sie betrifft.

Das Interview führte Stefan Jacobs

HINTERGRUND

Der Hungerstreik von Flüchtlingen in der brandenburgischen Abschiebehaft in Eisenhüttenstadt hält an. Sie wollen damit ihre Abschiebung verhindern. Am Montag hätten acht der derzeit 20 festgehaltenen Menschen keine Verpflegung angenommen, sagte eine Sprecherin des Innenministeriums. Ihre Forderungen hätten sie noch nicht mitgeteilt. Der Hungerstreik dauert jetzt seit Freitag. Zunächst hatten sich zehn Flüchtlinge daran beteiligt, Flüchtlingsinitiativen sprechen von elf Beteiligten. Einige hätten sich gar zu einem „trockenen“ Streik entschieden, teilte das „Netzwerk Lager Eisenhüttenstadt“ mit. Die Flüchtlinge, die meisten aus Georgien und Pakistan, würden damit auch gegen die unmenschliche Behandlung in dem Abschiebegefängnis protestieren. Ein 27-Jähriger sollte schon im Juni abgeschoben werden, was Flüchtlingsaktivisten aber verhinderten. Die Flüchtlinge fordern auch Zugang zu unabhängiger medizinischer und psychotraumatischer Versorgung, die mangelhaft sein soll. Ende Mai erhängte sich ein Asylbewerber. Vergangene Woche verletzte sich ein Georgier selbst mit einer Rasierklinge. (axf)

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