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Schrille Gerüchte, kaum Fakten. Demonstranten am Samstag vor dem Kanzleramt. Die angebliche Vergewaltigung einer Minderjährigen sorgt für Wirbel.

© K.-D. Gabbert/dpa

Brandenburg: Moskau mischt mit in Marzahn

Russlands Außenminister Lawrow und die angebliche Entführung in Berlin: Wie Russland die Debatte um die Flüchtlingspolitik anheizt

Berlin - Was wirklich passiert ist, wissen die Ermittler bislang nicht. Dass die 13-jährige Russlanddeutsche entführt und vergewaltigt worden sein soll, schließt die Berliner Polizei aber aus. Trotzdem schlägt der Vorfall im Internet hohe Wellen – und erreicht nun auch die hohe Politik. Russlands Außenminister Sergei Lawrow wirft den deutschen Behörden Vertuschung vor. Er forderte von den deutschen Behörden lückenlose Aufklärung. „Ich hoffe sehr, dass es keine Wiederholung der Fälle geben wird, wie den mit unserem Mädchen, dessen Verschwinden aus irgendeinem Grund sehr lange verschwiegen wurde“, sagte Russlands Chefdiplomat am Dienstag in Moskau auf seiner Jahrespressekonferenz, bei der es eigentlich um die wichtigsten Ereignisse der internationalen Politik im letzten Jahr ging. „Ich denke, dass hier die Wahrheit und die Gerechtigkeit siegen sollen.“ Die russische Botschaft stehe mit dem Anwalt von Lisas Familie in Kontakt.

Doch was ist hier die Wahrheit? Es gibt nur wenige Fakten, aber ein Gemisch aus Behauptungen, fremdenfeindlichen Tönen und schrillen Gerüchten. Aber Moskau heizt sie nun an und befeuert damit indirekt die Debatte in Deutschland um die Flüchtlingspolitik.

Angehörige des deutsch-russischen Mädchens hatten dem staatsnahen Ersten Kanal, der mit einem eigenen Korrespondenten in Berlin vertreten ist, gesagt, die 13-Jährige sei von drei Flüchtlingen entführt und mehrfach vergewaltigt worden. Andere russische Medien, die zum Teil in mehrspaltigen Texten berichteten, äußerten dabei die gleichen Vorwürfe. Dazu gehörte auch, dass die Polizei den Fall vertuscht haben soll. Nach den sexuellen Angriffen auf Frauen in der Silvesternacht in Köln bekam der Fall schnell eine ungeahnte Brisanz.

Hinzu kommt: Moskaus Verhältnis zum Westen ist wegen der Ukraine-Krise massiv getrübt, russische Medien berichten seither auch über Deutschland oft unfreundlich. Sehr viel differenzierter setzte sich dagegen die amtliche Nachrichtenagentur TASS mit den Vorwürfen auseinander. Dennoch ist allgemein bekannt, dass Russland bewusst rechte und nationalistische Bewegungen in Europa unterstützt, um den Westen zu attackieren.

Am 11. Januar, einem Montag, verschwand die 13-Jährige aus dem Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf auf dem Weg zur Schule. Nach etwa 30 Stunden tauchte sie wieder auf. Ihre Familie hatte sie inzwischen als vermisst gemeldet und Suchplakate aufgehängt. Das Mädchen ging mit seinen Eltern zur Polizei. Das Kripo-Dezernat für Sexualdelikte sprach zuerst mit der Familie, dann mit dem Mädchen allein. Die 13-Jährige wurde zudem medizinisch untersucht. Anhaltspunkte für die erste Version der Schülerin fanden sich laut Polizei aber nicht: „Fakt ist – nach den Ermittlungen unseres LKA gab es weder eine Entführung noch eine Vergewaltigung.“ Um das Opfer zu schützen, könne man nicht mehr über dessen Aussagen mitteilen. Dem Vernehmen nach ist das Mädchen „in schlechte Kreise geraten“, sie hat dann der Polizei „verschiedene Versionen präsentiert“, um ihr Verschwinden zu erklären.

Der Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft sagte: „Was in der fraglichen Zeit passiert ist, konnten wir bislang aber nicht klären.“ Das Mädchen habe widersprüchliche Angaben gemacht. Inzwischen werde gegen zwei Männer mit türkischen Wurzeln, die in Berlin leben sollen, wegen sexuellen Kindesmissbrauchs ermittelt. Einer von ihnen ist deutscher Staatsbürger. Es gehe um den Verdacht, dass es bereits vor ihrem Verschwinden einvernehmliche Sexualkontakte gab. Sexuelle Handlungen an unter 14-Jährigen sind strafbar, können mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren geahndet werden.

Der Berliner Innensenator Frank Henkel (CDU) zeigte sich am Dienstag „sehr verwundert über diese Einmischung aus Moskau in laufende Ermittlungen. Der Vorwurf, die Ermittlungsbehörden würden etwas vertuschen, wird auch nicht richtiger, wenn er ständig wiederholt wird“. Staatsanwaltschaft und Polizei würden „absolut gewissenhaft und nach Recht und Gesetz“ ermitteln.

Nur Fakten zählen hier offenbar nicht: Die Meldung versetzt das Netz in Aufruhr. Nachdem der rechte Facebook-Account Anonymous das Interview mit der Tante des Mädchens mit deutschen Untertiteln auf der Plattform verbreitete, kursierten im Internet zahlreiche Verschwörungstheorien, die die Untätigkeit der Polizei und die zurückhaltende Berichterstattung der „Mainstreammedien“ verurteilten.

Bei russischen Einwanderern verbreitete sich die Geschichte der angeblichen Entführung schnell. In Internetforen wurde gegen Ausländer gehetzt. Am Samstag zogen Hunderte Menschen vor das Kanzleramt in Berlin, neben Russen waren viele deutsche Rechtsextremisten gekommen. Schilder mit Slogans wie „Unsere Kinder sind in Gefahr“ waren zu sehen. Am Sonntag dann gingen wiederum Hunderte gleich in mehreren Städten auf die Straße – allen voran in Bayern und Baden-Württemberg. Auch die rechtsextreme NPD sprang auf den Fall auf. In einem Video ist zu sehen, wie sich eine junge Frau auf einer NPD-Kundgebung als Cousine des Mädchens bezeichnet und behauptet, die Polizei habe das Opfer unter Druck gesetzt und seine Aussagen ignoriert. Auf die Frage, ob die Polizei gegen diese Beschuldigungen vorgehen will, sagte ein Sprecher: „Dass Verwandte Sachverhalte verdrehen oder andere Dinge glauben, ist für uns kein Anlass für ein Ermittlungsverfahren.“

Das russische Staatsfernsehen, das von vielen Russlanddeutschen gesehen wird, behauptete, die Polizei sei von der Politik angewiesen worden, mit Rücksicht auf Flüchtlinge den Fall unter den Teppich zu kehren. Inzwischen zeigte ein Anwalt den Berlin-Korrespondenten des russischen Fernsehsenders „Perwy kanal“ wegen Volksverhetzung an.

Viele Russlanddeutsche, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Deutschland kamen, wühlte die angebliche Vergewaltigung nicht nur auf – fast nebenbei wurde ihr Verständnis von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit deutlich. Im NDR-Magazin „Zapp“ sagte eine Frau: „Das sind die deutschen Gesetze, die so etwas verbieten, das zu ermitteln, vor allem, wenn es um Flüchtlinge geht. Wenn wir ein Verbrechen begehen, dann wird ganz schnell gehandelt und eingesperrt. Für Immigranten gibt es ganz andere Gesetze hier.“ In einem Internetvideo forderte der Vorsitzende des Internationalen Konvents der Russlanddeutschen, Heinrich Groth, der Flüchtlingsstrom nach Deutschland müsse gestoppt werden. Kein einziger dürfe mehr aufgenommen werden.

Für den russischen Außenminister scheint der Fall aus der Ferne eindeutiger zu sein als für deutsche Ermittler. „Es ist klar, dass das Mädchen sicher nicht freiwillig für 30 Stunden verschwand“, sagte Lawrow. Er hoffe, „dass diese Migrationsprobleme nicht zum Versuch führen, die Wirklichkeit aus irgendwelchen innenpolitischen Gründen politisch korrekt zu übermalen, das wäre falsch“. Das Auswärtige Amt in Berlin erklärte: „Wir kommentieren diese Äußerungen von Herrn Lawrow nicht.“ Der aber hat sein Ziel erreicht. Jutta Schütz,

Andreas Rabenstein, Elke Windisch,

Sabine Beikler (mit dpa, axf)

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