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Brandenburg: Ist der Aufbau Ost gescheitert, Herr Schönbohm?

Der Potsdamer Innenminister über verschleuderte Solidarpaktmittel und gelungene Projekte – und darüber, was Brandenburger von Schwaben lernen können

Der Potsdamer Innenminister über verschleuderte Solidarpaktmittel und gelungene Projekte – und darüber, was Brandenburger von Schwaben lernen können Herr Schönbohm, haben Sie Rolf Hochhuths Stück „McKinsey kommt“ gesehen, das ja in Brandenburg/Havel uraufgeführt wurde? Ich habe es nicht gesehen, aber ich habe darüber gelesen. Dort wird das gewaltsame Aufbegehren der von Arbeit ausgeschlossenen Deutschen prophezeit. Ein realistisches Szenario? Nein, das Szenario ist falsch. Aber Hochhuth beschreibt das Problem, dass wir hier in Teilen von Brandenburg, aber auch in anderen neuen Bundesländern eine Arbeitslosigkeit von 25 oder 28 Prozent haben und die Menschen keine Chance haben, in den Arbeitsmarkt wieder eingegliedert zu werden, wenn sie in der Region bleiben. Sie haben nur die Möglichkeit, entweder in Regionen zu pendeln, in denen es Arbeit gibt, oder in den Westen zu gehen. Die hohe Arbeitslosigkeit ist das eigentliche Thema im Osten Deutschlands. Und das 14 Jahre nach der deutschen Einheit – muss man daraus schließen: Der Aufbau Ost ist gescheitert? Nein. Es gibt auch vieles, was gelungen ist ... Sagen Sie es uns ... Bei uns in Brandenburg zum Beispiel die Übernahme der chemischen Produktion in Schwarzheide durch BASF, wo der Weltkonzern einen Standortvorteil nutzt und behauptet. Auch die EKO-Stahl in Eisenhüttenstadt ist trotz der schwierigen Stahlmarkt-Situation eine Erfolgsgeschichte. Wir haben in Schwedt die petrochemische Raffinerie sowie die beiden Papierfabriken, wodurch Schwedt einer der größten Standorte der Papierindustrie in Deutschland ist. In Rathenow wurde wieder an die alte Tradition der optischen Industrie angeknüpft. Und, was immer wieder vergessen wird, wir haben in Brandenburg mit 10,6 Prozent die höchste Selbstständigen-Quote in den neuen Ländern. Allerdings sind mit diesen Firmen leider zu wenige Arbeitsplätze verbunden, da es für sie darum geht, wettbewerbsfähig zu bleiben. Aber in die öffentliche Wahrnehmung geriet Brandenburg vor allem durch spektakuläre Ansiedlungspleiten. Im Osten insgesamt sind Millionensummen von Fördermitteln versickert. Da haben doch vor allem die Politiker versagt. Das kann man so pauschal nicht sagen. In Sachsen haben sich Porsche, BMW und VW angesiedelt, in Thüringen Opel – das hat in Brandenburg nicht funktioniert. Der Osten ist nicht einheitlich. Wir haben zum Beispiel in Brandenburg eine doppelt so hohe Schuldenlast pro Kopf der Bevölkerung wie Sachsen. Unser Bewegungsspielraum ist also wesentlich mehr eingeengt, allein schon durch die notwendigen Zinszahlungen. Natürlich sind Cargolifter, Lausitzring und Chipfabrik zu Symbolen geworden, die jedem Politiker in Brandenburg um die Ohren gehauen werden. Aber zwei davon haben wir von der Vorgängerregierung geerbt. Also hat ja doch die Politik versagt ... Natürlich hat es Fehler gegeben. Wir sind jetzt dabei, sie zu beheben. Und wenn Herr Stolpe sagt, wir müssen uns künftig auf Wachstumszentren und Cluster konzentrieren, dann heißt das auch, dass er eingesehen hat, dass das, was er bisher vertreten hat, nicht richtig war. Diese Lernkurve durchfahren wir zurzeit. Leider zu spät. Die brandenburgische CDU wollte bei der Bildung der Landesregierung 1999 die EU-Fonds anders strukturieren, um mehr in wirtschaftsnahe Infrastruktur und die Verkehrsinfrastruktur zu investieren, anstatt zu sehr auf den allumsorgenden Staat und scheinbare Wohltaten zu setzen, die in Wahrheit aber die Zukunft verspielen. In Sachsen hat man diesen Wechsel schnell vollzogen. In Brandenburg konnten wir erst im Dezember vergangenen Jahres eine erste Veränderung erreichen. Heißt das, dass Solidarpaktmittel falsch eingesetzt worden sind? Aus dem Bericht der Bundesregierung für das Jahr 2003 geht hervor, dass Sachsen 80 bis 90 Prozent der Solidarpaktmittel entsprechend den Vorgaben verwendet hat, also für den Zweck, eine selbsttragende Wirtschaft aufzubauen. In Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern waren das etwa 50 Prozent, in Brandenburg 30 bis 35 Prozent, in Sachsen-Anhalt 15 bis 20 Prozent, in Berlin null Prozent. Das müssen wir ändern. Wenn wir in der nächsten Legislaturperiode nicht konsequent umsteuern, dann hat Brandenburg keine Chance. Dann wird Brandenburg irgendwann ein Land mit einem Staatskommissar. Haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Stimmen im Westen mehren, die fordern, den Geldhahn für den Osten zuzudrehen? Wir reden hier nicht über abstrakte wirtschaftliche Vorgänge, sondern über Menschen, die einen schwierigen Transformationsprozess durchlaufen, zum Teil durchlitten haben. Eine gewaltige Leistung, auf die jeder stolz sein kann. Wenn eine Fabrik mit siebentausend Mitarbeitern innerhalb von zwei Jahren weg ist und die Beschäftigten keine neue Arbeit finden, dann hat das Problem eine Dramatik, die man im Westen gar nicht kennt und deren Bedeutung man gar nicht einschätzen kann. Deshalb brauchte man eine Übergangsphase, um den Absturz bei dem großen Wandel sozial abzufedern. Diese Phase ist in Brandenburg sehr viel länger ausgedehnt worden als in Sachsen. Wenn Stolpe noch im November 1999 gesagt hat, er sei stolz darauf, dass Brandenburg manchmal „die kleine DDR“ genannt wird, dann ist das Ausdruck dieser Denkweise. Ich habe damals gesagt: Ich bin stolz darauf, dass meine Landsleute die DDR abgeschafft haben, und wir werden es in Brandenburg auch tun. Wer hat eigentlich mehr Grund zur Klage: die Ostdeutschen, denen trotz jahrelanger Alimentierung noch immer die wirtschaftlichen Perspektiven fehlen, oder die Westdeutschen, die als Transferzahler nun selbst das wirtschaftliche Fiasko fürchten? Wir haben nach der Wende durch den Konsum in Ostdeutschland und die zunehmende Staatsverschuldung eine Art Scheinkonjunktur gehabt. Produziert wurde im Wesentlichen im Westen. Natürlich, die deutsche Einheit ist nicht aus der Portokasse bezahlt worden: 1250 Milliarden Euro Transferzahlungen sind eine unvorstellbare Summe. Wir müssen uns in den neuen Ländern – außer Sachsen, das vorbildlich war – den Vorwurf gefallen lassen, dass wir einen Teil des Geldes nicht zweckmäßig ausgegeben haben. Künftig soll nun auf Wachstumskerne gesetzt werden. Aber in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern muss man geeignete Standorte mit der Lupe suchen. Macht solche Förderpolitik dann Sinn? Wenn Sie dazu eine Lupe brauchen, sind Sie blind. Wir haben durchaus vielversprechende Wachstumskerne. Denken Sie an die Bahn- und Verkehrstechnologie oder an die Biotechnologie in Hennigsdorf, an viele kleine Ansiedlungen der Informationstechnologie oder an die klassischen, schon genannten Industriestandorte. Wenn Sie auf der Schwäbischen Alb jemanden fragen: Wo arbeiten Sie?, dann hören Sie: Mir schaffe beim Daimler. Die fahren früh 6 Uhr nach Stuttgart und sind abends 6 Uhr wieder zu Hause. Wir werden Industriekerne nicht ins Land verpflanzen können. Wir müssen in Brandenburg die Standorte weiter ausbauen, an denen wir erfolgreich und wettbewerbsfähig sind, und wir müssen uns daran gewöhnen, dass es nicht unzumutbar ist, dass Arbeitnehmer eine bis anderthalb Stunden pendeln. Deshalb ist der weitere Ausbau der Verkehrsinfrastruktur von so großer Bedeutung. Wir brauchen also eine Kombination von drei Dingen: Pflege und Ausbau der leistungsfähigen Standorte, Weiterentwicklung der Verkehrsinfrastruktur einschließlich des Interregio-Programms der Bahn und die stärkere Förderung von Selbstständigen vor allem im ländlichen Raum. Und eine Sonderwirtschaftszone Ost? Viel wichtiger ist eine Modellregion mit erweiterten Möglichkeiten, weniger Bürokratie und mehr Freiräumen zum Experimentieren. Dazu gehören zum Beispiel eine Vereinfachung des Planungsrechts und eine flexiblere Arbeitszeitgestaltung. Wenn sich dies dann bewährt hat, können nachfolgend auch Verkrustungen in den alten Bundesländern aufgebrochen werden. Dann kann der Westen mal vom Osten lernen. In Brandenburg haben die damaligen Regierungen nach der Einheit den großen Fehler gemacht, viele Landesgesetze zu erlassen, die sogar noch oberhalb der Bundesstandards lagen. Das hemmt uns noch heute. Nennen Sie uns doch mal ein Beispiel. In Calau habe ich mit zwei Brüdern gesprochen, die einen landwirtschaftlichen Betrieb aufgebaut haben. Die haben zirca 1000 Hektar unterm Pflug. Jetzt wollen sie eine Beregnungsanlage für zirca 45 Hektar aufstellen, doch das geht nicht, weil 25 Bäume dastehen – nicht besonders wertvoll, nicht besonders alt. Das Forstamt sagt: Die können weg. Das Naturschutzamt sagt: Die können nicht weg. Die beiden können dort also nicht investieren, um Stärkekartoffeln zu produzieren und ihre Produktpalette zu erweitern. Das werden wir ändern. Dieses Beispiel illustriert das Problem in Brandenburg: Wir hatten eine Umweltgesetzgebung über dem Bundesstandard, die immer das Einvernehmen mit den verschiedensten Verbänden voraussetzte. Es hieß nicht „im Benehmen mit“, sondern „im Einvernehmen mit“. Das haben wir erst jetzt, nach jahrelangen Diskussionen in der Koalition, geändert. Sehen Sie wirklich Chancen, dass auf Bundesebene Verkrustetes aufgebrochen werden kann, damit der Osten mehr Freiräume bekommt? Wenn es nicht aufgebrochen wird, muss die nachfolgende Generation bei null anfangen. Ein Vorbild ist zum Beispiel das Verkehrswegebeschleunigungsgesetz. Wir brauchen viel mehr solcher Freiräume. Die Union hat im Wahlkampf 2002 den Vorschlag gemacht, dass neu gegründete Unternehmen in den ersten vier Jahren nur eine Pauschalsteuer zahlen. Oder nehmen wir den Kündigungsschutz. Eines habe ich aus vielen Gesprächen gelernt: Ein Unternehmer im Osten, der einen Mitarbeiter einstellt, fühlt sich dem Menschen gegenüber persönlich verpflichtet, weil sie die gleiche Biografie und die gleichen Erfahrungen haben. Wenn er ihn wirklich wieder entlassen muss, dann nicht, um seinen Gewinn zu maximieren, sondern um seinen Betrieb zu retten. Also stellen viele kleinere Unternehmer gar nicht erst ein, um dann nicht nach der Sozialauswahl kündigen zu müssen. In solch einer fragilen Wirtschaftssituation ist größere Flexibilität am Arbeitsmarkt einfach notwendig. Das hat nichts mit einer Hire-and-Fire-Politik zu tun. Und: Die Grundidee von Hartz IV mag richtig sein, aber in den neuen Ländern ist sie nicht tragfähig genug. Wichtiger wäre, durch Lohnergänzungs- und Lohnzusatzleistungen den Anreiz zur Aufnahme von Arbeit zu erhöhen. Sie haben gelegentlich die schlechte Stimmung in Ostdeutschland beklagt. Gibt es denn Grund für eine bessere? Kürzlich war ich in Strausberg, um mit Schülern der Klassen 12 und 13 zu diskutieren. Zwei Stunden lang ging es um das Elend dieser Welt und die Situation in Brandenburg. Am Ende habe ich ihnen gesagt: Denken Sie mal daran, unter welchen Bedingungen Ihre Großeltern das Land aufgebaut haben, unter welchen Schwierigkeiten sich Ihre Eltern in der DDR durchgeboxt und dann den Wandel erlebt haben. Und jetzt sitzen Sie hier und sind verzagt. Haben Sie eigentlich vergessen, was wir können? Und wenn Sie gefragt werden, wo Sie herkommen, dann sagen Sie bitte nicht: aus der Nähe von Berlin, sondern sagen sie: aus Brandenburg. Und sagen Sie, Sie wollen etwas dafür tun, dass aus Brandenburg wieder etwas wird. Sie haben es in der Hand. Danach sprachen mich viele Schüler an und sagten: Vielen Dank, so haben wir das noch nie gesehen. Wir brauchen einfach wieder mehr Aufbruchsgeist und Selbstvertrauen. Deshalb ist die Deregulierung so wichtig: um mehr Eigeninitiativen zu wecken. Die sind mir wichtiger als Fördermittel. Muss sich der Bundeskanzler mehr um den Osten kümmern? Davon bin ich überzeugt. Ich bin von Herrn Schröder enttäuscht. Er hat den Aufbau Ost zur Chefsache machen wollen. Als Konsequenz dessen ist ein Teil der Mittel für den Osten reduziert worden. Seine Sommerreisen nach Ostdeutschland und Besuche bei seinen Ost-Verwandten hat er als Medienereignisse zelebriert. Die emotionale Bedeutung der deutschen Einheit, der Begriff der Nation, der den West-Ost-Transfer erklären kann – all das ist nicht seine Sache. Braucht der Aufbau Ost ein neues, eigenes Ressort – mit einem neuen Mann an der Spitze? Immer wenn etwas nicht richtig funktioniert, kommt der Ruf nach einem neuen Mann und einer neuen Organisation. Für mich ist das Entscheidende: Wir müssen in den neuen Bundesländern unsere Schularbeiten machen. Und ich wehre mich strikt dagegen, dass die Länder entmündigt werden und eine Zentralbürokratie in Berlin sagt, wo das Geld hingeht, wo Cluster sind und wo nicht. Dann soll man gleich sagen, wir wollen einen Zentralstaat einführen und die Bundesländer abschaffen. Das Gespräch führten Gerd Appenzeller, Thorsten Metzner und Matthias Schlegel. Das Foto machte Mike Wolff.

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