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Ohne Schnörkel. Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD).

© Thilo Rückeis

Dietmar Woidke über Konflikte zwischen Berlin und Brandenburg: „Ich mache keine Dinge mit, die ich für Unfug halte“

Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke spricht im Interview über die Verantwortung der Kanzlerin für die Flüchtlingskrise, einen SPD-Kanzlerkandidaten und Konflikte mit dem Land Berlin.

Herr Woidke, muss Deutschland seine Grenzen schließen, weil Angela Merkel keine europäische Lösung schafft?

Grenzschließungen schaffen es nicht, Schleppern und Schleusern das Handwerk zu legen. Dass aber Deutschland in der Bittstellerposition ist und alle anderen Länder sich verweigern, ist nicht hinnehmbar. Ein Land allein kann diese Probleme nicht lösen. Eine Entsolidarisierung wird dazu führen, dass Europa in noch größere Probleme als schon gegenwärtig gerät.

Erwarten Sie, dass auch 2016 eine Million Menschen nach Deutschland kommen?

Die Zahlen sind nicht gesunken. Im Januar allein sind fünfmal so viele Flüchtlinge gekommen wie vor einem Jahr. Momentan muss man davon ausgehen, dass die Zahl von 2015 mindestens wieder erreicht wird, wenn es zu keinen Änderungen der Rahmenbedingungen kommt. Hilfreich wäre dabei eine verlässliche Prognose der Bundesregierung, die gibt es seit Sommer letzten Jahres nicht mehr. Aber wir benötigen eine Prognose, weil die Kommunen Planbarkeit brauchen, welche Kapazitäten sie schaffen müssen, etwa für Unterkünfte. Die gesamte Situation ist momentan äußerst unbefriedigend.

Hat Angela Merkel bei der Zuwanderung versagt?

Wir wissen immer noch nicht genau, wer nach Deutschland kommt. Und wir benötigen eine schnellere Bearbeitung der Asylanträge. Das ist die Verantwortung auch der Bundeskanzlerin. Außerdem unterstützt der Bund die Bundesländer völlig unzureichend. Wir erhalten derzeit nicht einmal 20 Prozent der Kosten. 80 Prozent der Kosten dieser nationalen Herausforderung tragen Länder und Kommunen. Diesen Zustand akzeptiere ich nicht. Wenn die Bundeskanzlerin von einer nationalen Herausforderung redet, dann muss der Bund finanziell deutlich stärker einstehen. Fünfzig Prozent der Kosten müssen Sache des Bundes sein.

Sie fordern das – bisher vergeblich.

Nicht nur ich fordere das, sämtliche Ministerpräsidenten sind sich hier einig. Und: Wir sind vorangekommen. Wir haben eine Förderung des Bundes erreicht, allerdings ist die völlig unzureichend. Das gilt vor allem in Hinblick auf eine schnelle und erfolgreiche Integration. Die Integration ist der Schlüssel und die Aufgabe für die kommenden Jahre. Wir brauchen für ganz Deutschland ein Beschäftigungs- und Qualifizierungsprogramm, so wie wir es in Ostdeutschland hatten nach der Wende – damals für Langzeitarbeitslose, heute für die Flüchtlinge und unsere Langzeitarbeitslosen. Mit einer schnellen Integration helfen wir nicht nur den Flüchtlingen, sondern dem ganzen Land. Die Wirtschaft wartet auf ein flächendeckendes Qualifizierungsprogramm, gerade in Hinblick auf die Fachkräftesicherung. Deutschland könnte dadurch stärker werden und die Flüchtlinge müssen nicht beschäftigungslos herumsitzen. Wir haben im Bündnis für Brandenburg gemerkt, wie groß das Interesse und die Bereitschaft der Wirtschaft ist, auf die Flüchtlinge zuzugehen und sie zu qualifizieren.

Wie viele Milliarden braucht Deutschland für die Integration?

Integration ist teuer. Das sollte die Bundesregierung deutlich sagen. Mich ärgert, dass man so tut, als sei die Integration aus der Portokasse zu bezahlen. Das halte ich für einen fatalen Fehler, der bei der deutschen Einheit schon mal gemacht wurde. Wir werden dafür viel Geld brauchen. Aber jetzt ist es billiger, als zu warten, bis große Probleme uns zum Handeln zwingen. Dann brauchen wir ein Vielfaches dessen, was wir heute einsetzen müssen – das sind etwa 20 Milliarden Euro, getragen von Bund und Ländern. Dieses Geld muss jetzt aufgebracht werden. Und es ist gut angelegtes Geld.

Gab es Illusionen über die Qualifikation der Flüchtlinge?

Natürlich sind nicht alle hoch gebildete Medizinalräte. Aber es gibt eine riesengroße Motivation der Menschen, Deutsch und einen Beruf zu erlernen. Diese Motivation müssen wir nutzen, bevor daraus Enttäuschung wird. Unsere Unternehmen suchen händeringend nach Fachkräften, das bundesweite Programm wäre deshalb die richtige Antwort. Auch deshalb, weil jeder Deutsche , der solche Flüchtlinge kennenlernt, auch seine Vorurteile und Ängste verliert. Deshalb ist auch wichtig, dass Integration möglichst schnell passiert.

Muss man abgelehnte Asylbewerber konsequenter abschieben?

Wer Abschiebungen wirklich will, muss die Verfahren beschleunigen. Je länger die Menschen hier sind, drei oder vier Jahre, sich und ihre Kinder integriert haben und hier arbeiten, umso mehr stellt sich die Frage, warum man diese Menschen abschieben soll. Es muss künftig innerhalb von wenigen Monaten eine Entscheidung geben. Wir in Brandenburg wollen nur noch diejenigen Flüchtlinge auf die Kommunen verteilen, die eine gute Bleibe- und damit eine Integrationsperspektive haben. Dann weiß jeder Landrat und Bürgermeister, dass bei diesen Menschen das Geld für Deutschkurse und Ausbildung gut investiert ist.

Vor den Wahlen in Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg liegt die AfD bundesweit bei knapp elf Prozent. Etabliert die Flüchtlingskrise die Rechtspopulisten nachhaltig?

Die AfD profitiert von der Verunsicherung im Lande, die ja nachvollziehbar ist. Das hat mit Ausländerfeindlichkeit zunächst gar nichts zu tun. Die Leute erwarten, dass der Staat seine Hausaufgaben macht.

Das heißt?

Dass wir wieder zur Grundordnung zurückkehren. Dass wir wissen, wer zu uns gekommen und in unserem Lande unterwegs ist, wie sie integriert werden sollen. Die Leute erwarten, dass die Integration läuft, dass den Menschen, denen geholfen werden muss, geholfen wird, und dass gleichzeitig die Bundesrepublik das erfolgreiche starke Deutschland bleibt, das sie kennen. Zugleich müssen wir uns mit der AfD politisch auseinandersetzen. Viele Argumente sind so simpel, dass sie auch simpel zu widerlegen sind.

In Sachsen-Anhalt könnte die SPD noch hinter der AfD landen. Warum ist gerade der Osten so anfällig?

Ich denke nicht, dass das nur ein Ost-Phänomen ist. Insgesamt unterscheiden sich Länder wie Brandenburg nicht von Rheinland-Pfalz oder Baden-Württemberg.

Es gibt Landstriche, da kommt die SPD nicht einmal mehr auf 20 Prozent. Ist die SPD als Volkspartei in Gefahr?

Die SPD wird dann weiterhin eine Volkspartei sein, wenn sie die Nöte, Ängste und Sorgen der Menschen ernst nimmt und versucht, dafür Lösungen zu erarbeiten. Wenn man die Probleme löst, mache ich mir um die SPD keine Sorgen. Unsere Kompetenz ist es, wirtschaftliche Stärke mit sozialer Vernunft zu verbinden. Die aktuelle Politisierung, wo jeder, ob beim Kaffee, Mittagessen oder beim Abendbrot über Politik diskutiert, ist auch eine Chance für unsere Demokratie.

Selbst viele Parteifreunde zweifeln, dass diese Aufgabe zu schaffen ist.

Die Skepsis ist ja auch berechtigt. Wir werden es nicht schaffen, zehn Jahre lang jedes Jahr eine Million Menschen zu integrieren. Das können wir nicht.

Entscheiden die Landtagswahlen im März auch über den SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel als Kanzlerkandidat?

Nein, die Landtagswahlen werden nicht über die Kanzlerkandidatur entscheiden. Die SPD wird sich Gedanken machen und eine Persönlichkeit finden, mit der das verbunden wird, was wir für unser Land erreichen wollen. Kandidat und Programm müssen zusammenpassen. Und da gibt es eine Reihe von möglichen Kandidaten und Kandidatinnen. Warten wir es mal ab!

Können Sie als Nachbar die enormen Probleme Berlins bei der Unterbringung der Flüchtlinge ignorieren?

Wir ignorieren die Berliner Probleme nicht. Nach Brandenburg sind letztes Jahr aber auch 47 000 Menschen gekommen, davon werden 30 000 Menschen dauerhaft bleiben. Das stellt auch uns vor große Herausforderungen. Wenn wir Kapazitäten haben, sind wir gerne bereit, Berlin zu helfen. Es gibt darüber momentan auch Gespräche. Was ich mir nicht vorstellen kann, ist, dass wir 5000 Menschen in riesigen Messehallen unterbringen. Das wird nicht funktionieren. Integration ist so nicht möglich. Menschen brauchen nicht nur eine Unterkunft und Verpflegung, sondern eine Perspektive, Betreuung und soziale Strukturen.

Aber Sie waren mit Selchow nach der ILA einverstanden. Warum der Sinneswandel?

Ich bin nicht bereit, Dinge zu machen, die ich für Unfug halte. Ich halte es im hohen Maße für naiv, zu denken, dass die Menschen dort hingefahren werden und dann dort bleiben. Ich würde sogar wetten, dass am nächsten Tag 80 Prozent der Leute weg sind, wahrscheinlich wieder in Berlin. Das sah Berlin im letzten Jahr übrigens ähnlich.

Berlin wächst bis 2020 auf vier Millionen Einwohner. Das strahlt auch auf Brandenburg aus. Warum hält die Zusammenarbeit beider Länder nicht mit?

Die Kooperation funktioniert. Michael Müller und ich haben ein gutes Verhältnis, wir kommen persönlich sehr gut miteinander aus. Wir reden öfter miteinander als übereinander. Klar ist: Wir sind eine erfolgreiche Metropolenregion. Trotzdem hat jedes Land seine spezifischen Interessen. Berlin ist den Berlinern verpflichtet. Ich bin den Brandenburgern verpflichtet. Das muss nicht immer identisch sein.

Wir haben nicht nach der Fusion gefragt!

Die Frage ist ja auch beantwortet.

Die gemeinsame Landesplanung schränkt bisher auch im „Speckgürtel“ neue Wohn- und Gewerbegebiete ein. Sollte man sie wegen des wachsenden Berlin lockern?

Wir werden uns auch über diese Fragen mit Berlin verständigen. Der Landesentwicklungsplan wird gerade überarbeitet. Aber es kann auch nicht nur darum gehen, möglichst viele Einfamilienhaussiedlungen und Möbelhäuser an den Stadtrand zu bauen. Wir sind mit den gemeinsam beschlossenen Grundzügen, auch mit den Restriktionen, gut gefahren. Es wäre falsch, jetzt alles über Bord zu werfen.

Das größte gemeinsame Projekt ist der Flughafen, mit neuen Schwierigkeiten. Müssen wir uns darauf einstellen, dass der BER erst 2018 eröffnet?

Ich gehe davon aus, dass der Termin 2017 gehalten wird.

Wäre es ein Drama, wenn es 2018 wird?

Die Politik kann keinen Eröffnungstermin bestimmen. Der Flughafen wird eröffnet, wenn er fertig ist. Dafür werden wir alles tun.

Manche erwarten eine Absage im Frühjahr, damit der Regierende Michael Müller nicht kurz vor der Berlin-Wahl im Herbst die nächste Verschiebung verkünden muss.

Das sehe ich nicht. Michael Müller hat sich vor wenigen Tagen gemeinsam mit der Geschäftsführung deutlich positioniert. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Nach dem BER-Rechnungshofbericht war 2012 der Flughafen nur zur Hälfte fertig. Hat Ihr Vorgänger Matthias Platzeck als Vize-Chef des Aufsichtsrats versagt?

Es wurden damals Riesenfehler gemacht. Das haben Klaus Wowereit und Matthias Platzeck nie verschwiegen. Wenn jetzt so getan wird, als müssten die beiden das endlich eingestehen, halte ich das für übertrieben. Hätte es nicht Fehler gegeben, auch auf der politischen Ebene, würde der Flughafen wahrscheinlich längst in Betrieb sein.

Ein PNN-Dossier mit Originalauszügen aus dem Prüfbericht steht hier erstmals zum Download bereit >>

Warum sind Sie dagegen, Regressansprüche gegen den Alt-Aufsichtsrat zu prüfen?

Es hat eine Haftungsprüfung gegeben. Ich sehe da keinen neuen Sachstand.

Die damalige Prüfung war eine Farce.

Ich bin kein Jurist. Die zuständigen Gremien werden sich damit beschäftigen und dann wird es da eine Antwort geben.

Beim Rundfunk Berlin-Brandenburg wird gerade ein neuer Intendant gesucht. Was versprechen Sie sich von der Personalie?

Auf jeden Fall brauchen wir an der Spitze jemanden, der den Sender weiter voranbringt. Als Brandenburger Ministerpräsident erwarte ich, dass wir künftig eine bessere Brandenburg-Berichterstattung haben. Vielleicht mit ein bisschen mehr Herz, mehr Brandenburger Sichten, und dass vor allem auch die Regionalstudios erhalten bleiben. Der RBB muss im Konzert der ARD-Anstalten in Deutschland eine wichtigere Rolle als bisher spielen.

Das Interview führten Thorsten Metzner und Gerd Nowakowski.

POLITIKER 

Dietmar Woidke ist seit August 2013 Ministerpräsident und SPD-Chef von Brandenburg. Der promovierte Landwirt gehört seit 1994 dem Landtag an. Von 2004 bis 2009 war er Landwirtschaftsminister, dann Chef der Landtagsfraktion, von 2010 bis 2013 dann Innenminister. Er ist Koordinator der Bundesregierung für deutsch-polnische Zusammenarbeit.

PRIVATMENSCH

Der 1,96 Meter große Woidke wurde am 22. Oktober 1961 in Forst in der DDR geboren, wo er immer noch wohnt. Er studierte Landwirtschaft an der Humboldt-Universität, arbeitete dann bei einer Mineralfutterfirma. Der bekennende Christ ist zum zweiten Mal verheiratet. Aus erster Ehe hat er eine Tochter.

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