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Aktenfund ohne Schaden? Der Umgang mit Stasi-Lügen im öffentlichen Dienst könnte sich nun grundsätzlich wandeln.

© Lukas Schulze/dpa

Brandenburg: Bleibt die Stasi-Lüge ohne Folgen?

Landesarbeitsgericht verhandelt die Kündigung des Vize-Chefs der Brandenburger Rechtsmedizin Über seine Spitzelei belog er das Land zwei Mal. Fraglich ist, ob das für einen Rausschmiss reicht

Potsdam/Berlin - Das brandenburgischen Sozialministerium will prüfen, ob sich für den bisherigen stellvertretenden, aber wegen verschwiegener Stasi-Tätigkeit entlassenen Direktor des rechtsmedizinischen Instituts, Jürgen B., eine andere Stelle mit weniger Verantwortung und geringerer Bezahlung finden lässt. Und ob diese Entscheidung auch politisch haltbar wäre. Das ist das Zwischenergebnis einer Berufungsklage des Landes Brandenburg, die am gestrigen Donnerstag vor dem Landesarbeitsgericht in zweiter Instanz verhandelt wurde. Im Februar hatte das Arbeitsgericht Potsdam dem Rechtsmediziner, der gegen seine Kündigung geklagt hatte, weitgehend recht gegeben. Dagegen ging das Land nun vor. Gibt es keine Einigung zwischen beiden Seiten, wollen die Arbeitsrichter am 16. Oktober eine Entscheidung verkünden.

Wie berichtet hatte Jürgen B. zweimal eine Tätigkeit als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) für das ehemalige DDR-Ministerium für Staatssicherheit (MfS) wahrheitswidrig verneint – einmal 1991 im Rahmen des Berufsstarts für das neue Land Brandenburg und einmal im Herbst 2016, als er sich erfolgreich um den Chefposten des Instituts beworben hatte. Wegen dieser Lügen wurde er dann gekündigt. Das Sozialministerium, dem inzwischen eine Verpflichtungserklärung als IM von 1988 und die Stasi-Akte vorliegt, sah das Vertrauensverhältnis irreparabel zerstört.

Dafür, wie das Gericht entscheiden könnte, ließen der Vorsitzende Richter Holger Augustin und die beiden ehrenamtlichen Richter in der mehr als 90-minütigen Erörterung aller Aspekte kaum eine Tendenz erkennen. Auch Rechtsanwalt Thomas Jürgens wollte darüber „nicht orakeln“ und sprach von Kaffeesatzleserei. Jürgens vertrat das Land Brandenburg gemeinsam mit Abteilungsleiterin Anne Stolpe. Die Möglichkeit einer Einigung werde jetzt geprüft, erklärten Stolpe wie Jürgens.

Beide hatten zuvor eine andere Vergleichsanregung, die das Gericht am Ende der Verhandlung ins Spiel gebracht hatte, nach einem Telefonat mit Potsdam abgelehnt: Eine Kündigung plus Abfindung – bis zu 80 000 Euro – wolle das Land nicht als Signal senden, sagte Jürgens mit Blick auf das zerstörte Vertrauensverhältnis. Jürgen B. selbst hatte für eine Abfindung grundsätzliche Bereitschaft signalisiert.

Was das Ministerium seinem fachlich anerkannten Mitarbeiter vorwirft, ist nicht weniger, als dass das in 25 Jahren untadeliger Arbeit entstandene Vertrauen durch die wiederholte Unwahrheit über seine Stasi-Zuträgerei komplett zerrüttet ist. Vor diesem Hintergrund war Jürgen B. fristlos und ordentlich gekündigt worden. Beide Kündigungen hatte das Arbeitsgericht Potsdam in erster Instanz aufgehoben; am gestrigen Donnerstag ging es in der zweiten Instanz nur darum, ob das Arbeitsverhältnis wie vom Land gewünscht fristgemäß zum 30. Juni 2017 endet.

Entscheidend wird dabei sein, wie jenes Gespräch, bei dem Jürgen B. zum zweiten Mal die Unwahrheit sagte, angebahnt wurde und ablief – und was die Richter davon halten. Seine frühere IM-Tätigkeit aus den Jahren 1988 und 1989 habe er 2016 nicht mehr im Blickfeld gehabt, teils vergessen, teils verdrängt, erzählte B. gestern vor Gericht. Dass es für den Chefposten eine Stasi-Überprüfung geben wird, will er erst nach seiner Auswahl erfahren haben. Da und auch später will ihm aber seine Vergangenheit nicht eingefallen sein. Auch die Einladung des Sozialministeriums zu dem Gespräch – mit den Worten „Es ist etwas von der Stasi-Unterlagenbehörde zurückgekommen“ – habe dies nicht geändert. Er habe weiter eine Vorlesung vorbereitet.

Auch als das Personalgespräch am 14. Oktober 2016 mit dem Thema „Zusammenarbeit mit dem damaligen MfS“ eröffnet wird, brachte Jürgen B. das nicht in Beziehung zu seiner IM-Vergangenheit. Ihm will die Verpflichtungserklärung erst wieder bewusst geworden sein, als Anne Stolpe das Wort in den Mund nahm. Binnen ein, zwei Sekunden habe er sich entscheiden müssen – und sich falsch entschieden, sagte er vor Gericht. Aus Sicht des Ministeriums log Jürgen B. damit einfach weiter. Die erste Lüge aus 1991 gestand B. am Donnerstag übrigens ein. Seine Motivation: Ein Kollege war wegen eines Aktenfundes entlassen worden. Gegen Jürgen B. fanden sich 1990, bei der ersten Überprüfung durch das Land, noch keine belastenden Unterlagen.

Ob ein Arbeitgeber allerdings so vorgehen darf wie die Mitarbeiter des Sozialministeriums im Oktober 2016, daran hatte das Gericht Zweifel. Zum einen konnte durch das Personalgespräch kein Erkenntnisgewinn erwartet werden – die Unterlagen des Stasi-Beauftragten waren ja schon eingetroffen. Zum anderen war unter Umständen auch das Thema nicht genau genug mitgeteilt worden. „Warum wurden ihm nicht die Unterlagen vorgelegt und er um Stellungnahme gebeten?“, fragte Richter Augustin. „Vielleicht würde man im Nachgang das eine oder andere anders machen“, sagte Stolpe, die erst zwei Monate zuvor in dieses Amt aufgestiegen war. So ein Gespräch habe sie noch nie geführt, gestand die Abteilungsleiterin.

Anwalt Jürgens erklärte, dass man den Kläger nicht hinters Licht führen wollte. Den Eindruck, nicht mit offenen Karten zu spielen, obwohl man es hätte tun können, konnte das Ministerium dennoch nicht vermeiden. Die Rechtsanwältin von Jürgen B., Anja Schmidt-Bohm, wollte zwar nichts unterstellen, fand aber doch, dass man ihren Mandanten ins offene Messer habe laufen lassen. Später präsentierte das Ministerium auch noch eine andere Erklärung für diese Art der Gesprächsführung. Schließlich gehe es bei der herausgehobenen Stellung des künftigen Jobs auch um die Frage des Vertrauens – und wie er sich der Vergangenheit stellt.

Zumindest hier blieb für die Zuhörer einiges offen. Zum Inhalt seiner Berichte an seinen Führungsoffizier, die bisher nicht aufgefunden wurden, sagte B. nichts. Und als erörtert wurde, was Jürgen B. der Stasi zutrug und wie sorgfältig er Worte wählte, da schritt seine Anwältin ein: Es gehe hier um die Frage, ob der vom Ministerium genannte Grund die Kündigung trage. Das wiederum sah das Gericht nicht ganz so – auch das Maß der Verstrickung, was also an potenziell belastenden Details verraten wurde, sei von Belang. Wenn man die Ehefrau des Vorgesetzten, dem man eine Kuba-Reise keinesfalls verbauen will, als redselig und gesellig beschreibt, wie B. es offenbar tat, kann dies später auch negativ ausgelegt werden.

Dreh- und Angelpunkt bleibt wohl das Personalgespräch. Denn dass es ohne jene Unterhaltung wohl keinen Kündigungsgrund gegeben hätte, gestand auch Rechtsanwalt Jürgens zu. Er hätte am Vorabend jedenfalls nicht zur Kündigung geraten, wenn er gefragt worden wäre, sagte er auf eine explizite Frage von Richter Augustin. Im Klartext bedeutet das: Allein das Wissen um seine Stasi-Tätigkeit und die Lüge von 1991 hätten Jürgen B. nicht seinen Job als Vize-Direktor gekostet. Aber wegen der erneuten Lüge?

Damit könnte die viel zu späte Wende des Landes Brandenburg in der Stasi-Aufarbeitung letztlich folgenlos für verschwiegene Belastete bleiben. Während in den 1990er-Jahren, als Kündigungen wegen Stasi-Lügen noch leichter möglich waren, nicht genau genug hingeschaut wurde, können neue Erkenntnisse kaum zu Konsequenzen für die betreffenden Personen führen. Die Verbindungen von Jürgen B. zur Stasi wären auch nie aufgefallen, wenn er sich nicht für den Top-Job des Hauses beworben hätte. Wirtschaftlich geschadet hat ihm – unabhängig vom Ausgang des Prozesses – die erste Lüge jedenfalls nicht: 25 Jahre lang war er risikofrei im Landesdienst beschäftigt. Aktuell soll er für einen Landkreis in Brandenburg tätig sein und übernimmt in einem Krematorium die Leichenschauen. Nicht jedem, der 1991 die Wahrheit über seine MfS-Beziehung sagte, dürfte dies gelungen sein. (mit axf)

Ingmar Höfgen

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