zum Hauptinhalt

Position: 25 Jahre Landesverfassung Brandenburg: Bessere Regeln für direkte Demokratie

Vor 25 Jahren gaben sich die Brandenburger Bürger in einem Volksentscheid eine Verfassung. Der Philosoph Heinz Kleger von der Universität Potsdam erklärt in einem Gastbeitrag, warum sie jeder lesen sollte.

Am 14. Juni 1992 hat die Brandenburger Bevölkerung ihre neue Verfassung durch einen Volksentscheid angenommen: „Wir, die Bürgerinnen und Bürger des Landes Brandenburg, haben uns in freier Entscheidung diese Verfassung gegeben“, heißt es im stolzen ersten Satz. Ein solcher Akt ist die logische Folge einer demokratischen Revolution. 1992 war die Euphorie der Revolution vorbei, und es fragte sich, ob die erstrittene und erhoffte Demokratie der Bürgerinnen und Bürger zu leben beginnt.

Jeder kann sich auf Brandenburgs Verfassung berufen

Für eine verfassungsdemokratische Bürgergesellschaft ist die Verfassung als oberste Normenebene zentral, freilich mehr im funktionierenden Hintergrund als im geschäftigen Vordergrund. Jeder Bürger sollte deshalb einmal die Verfassung seines Landes gelesen haben. Sie ist nicht nur ein Métier für Juristen, sondern eine verständliche Fibel, auf die sich jeder und jede berufen kann.

Jüngst hat dies wieder der überzeugte Amerikaner Khizr Khan, eingewanderter Muslim und Vater eines im Irakkrieg getöteten Soldaten, vor aller Augen getan, als er am Parteitag der Demokraten buchstäblich mit der Verfassung in der Hand (die ‚pocket constitution‘), die islamophoben Positionen von Donald Trump öffentlich angriff. Dies kann selbst einen Tycoon in Schwierigkeiten bringen und erst recht einen amerikanischen Präsidenten, dessen Macht durch die verfassungsmäßig ausgeklügelten ‚checks and balances‘' gebunden ist, die man allerdings auch einfordern muss. Sie funktionieren nicht automatisch.

Freilich sind Länderverfassungen (und Landesverfassungsgerichte) nicht so bekannt und so wirksam wie eine amerikanische Verfassung oder ein deutsches Grundgesetz. Das ist in den USA mit ihren 50 ,states‘ nicht anders als in der BRD mit ihren 16 Ländern. Länderverfassungen sind auch wissenschaftlich kaum ein Thema, schon gar kein aufregendes.

Brandenburger unterliegen drei Verfassungen

Hinzu kommt, dass der Brandenburger nicht nur Bundesbürger ist, sondern auch EU-Bürger. Er unterliegt mithin drei Verfassungen: der Brandenburger Verfassung, dem deutschen Grundgesetz und der innovativen EU-Grundrechtecharta mit ihren zwölf Seiten. Verfassungen haben immer eine symbolische und eine organisatorische Seite. Sie sind mehr als ein Organisationsstatut, obschon die Brandenburger Verfassung allein 63 Artikel (von 117) zur Staatsorganisation enthält (Landtag, Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung, Finanzwesen, Rechtspflege).

Die Verfassung hält symbolisch ein verbindend-verbindliches Versprechen fest, an das Politik und Gesellschaft immer wieder erinnert werden müssen. Sie ersetzt aber nicht die demokratische Auseinandersetzung um die richtige Politik. Sie verfasst vielmehr vor allem die Freiheit des Politischen, welche die Bürgerrechtsbewegungen in Osteuropa und Ostdeutschland wieder mutig errungen haben. Vergisst man dies, so vergisst man auch dieses Erbe einer demokratischen Revolution. Keine Demokratieform, ob präsidentiell, parlamentarisch oder direkt, ist jedoch gegen Machtmissbrauch gefeit. Die neuen Formen des Autoritarismus tendieren zur plebiszitären Führerdemokratie. Die Verfassung dagegen ermöglicht und zivilisiert gleichermaßen die Demokratie in Richtung einer minderheitenfähigen Demokratie. Sie ist in Deutschland primär eine Grundrechte-Demokratie.

Direkte Demokratie muss besser geregelt werden

Brandenburg ist zu Recht stolz auf seine Bürgerbeteiligung, schon bei der Erarbeitung der Verfassung. Die Artikel 76, 77 und 78 geben der Bevölkerung die Möglichkeit, Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide anzustrengen. Bisher kam es jedoch noch nie von einem Volksbegehren zu einem Volksentscheid, und selbst in den Kommunen bleiben die Bürgerentscheide selten. Um in der Politik wirklich mitreden und mitentscheiden zu können, muss deshalb die direkte Demokratie besser geregelt werden, was zurzeit gerade eine Volksinitiative zu erreichen versucht.

Das bürgerschaftliche Engagement darf nicht ins Leere laufen, was ohnehin schon vorhandene Enttäuschungen verstärkt. Die rechtliche Zulässigkeit eines Bürgerbegehrens muss vor Beginn der Unterschriftensammlung geklärt sein. Das ist das Mindeste, um Verwirrung zu verhindern. Bürgerbefragungen sind noch keine Bürgerbeteiligung, die wiederum ein Spektrum verschiedenster Verfahren aufweist, die noch keine direkte Demokratie sind, was viele Bürger unter „starker Demokratie“ verstehen. Eine „lebendige Demokratie“ ohne Demokratiekonfusionen ist ein wichtiges Zukunftsziel, für das gedanklich wie praktisch noch mehr getan werden muss.

Liberal, tolerant, sozial und ökologisch

In der Brandenburger Verfassung gehen mehr Demokratie und mehr Liberalität Hand in Hand, was schwierig und keineswegs selbstverständlich ist. Die Brandenburger Verfassung ist liberal, tolerant, sozial und ökologisch (Art. 39, 40). Die sexuelle Identität (Art. 12 Abs. 2) wird ebenso gewährt wie Lebensgemeinschaften neben der Ehe (Art. 26). Die Würde der Kinder als eigenständige Personen wird respektiert (Art. 27 Abs. 1). Sodann wird ein besonderer Schutz für das sorbische Volk (Art. 25) und eine aufmerksame Nachbarschaftspolitik gegenüber Polen (Art. 2) angestrebt. Individualbeschwerden an das Landesverfassungsgericht sind ebenfalls möglich (Art. 6), was nicht überall der Fall ist. Soziale Rechte sind aufgenommen worden (Art. 45, 47, 48). Verfassungsrecht kann freilich eine aktive Sozial-, Arbeits- oder Wohnungspolitik nicht ersetzen. Das eigenständige Profil der Brandenburger Verfassung zwischen östlicher Selbstbestimmung und westlichen Vorgaben ist erkennbar und sollte in mehr Köpfe kommen.

Dies könnte zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Handlungskonzept „Tolerantes Brandenburg“, welches 1998 in der Potsdamer Nikolaikirche gegründet und 2005 („für eine starke und lebendige Demokratie“ lautet der neue Zusatztitel) reformiert worden ist, geschehen. Es hat gegenüber den 90er-Jahren, als Hoyerswerda einen Flächenbrand auslöste, zusammen mit vielen Akteuren die zivilgesellschaftliche Gegenwehr gegen Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Gewalt deutlich erhöht. In zahlreichen lokalen Bündnissen, die aktuell wichtige Integrationshelfer geworden sind, hat es sich zudem verstetigt und effektiv verankert. Dieses Potenzial im Geiste der Brandenburger Verfassung, die gastfreundlich ist, sorgt für die Verlebendigung von Zivilität, Liberalität und Demokratie. Es bietet eines der wenigen Identifikationsangebote im großen Flächenland für eine politische Bürgeridentität jenseits von Marketing und Sonntagspredigten.

Verfassungsinterpretation dürfen nicht nur Juristen und Politikern überlassen werden

Die Verfassung, die in jede Hemdtasche passt, ist nicht abstrakt, sondern konkret und nützlich für den alltäglichen Kampf im Überschaubaren, wo man selber etwas bewegen kann. Bürger sind in den meisten Fällen Laien und Autodidakten. Sie können aber sehr wohl zu Experten in eigenen Angelegenheiten werden und Bürgersouveränität entwickeln. Die Verfassungsinterpretation dürfen sie nicht Juristen und Politikern überlassen, sie ist vielmehr ein fortlaufender öffentlicher Prozess. Umfangreiche juristische Kommentare und Handbücher lassen sich dabei selektiv wie Lexika benutzen.

Verfassungsnormen und deren Umsetzung müssen täglich beweisen, dass sie in der Lage sind, die Situation der Menschen zu verbessern. Im historischen Vergleich ist dies nachvollziehbar, obwohl die Errungenschaften der liberalen Demokratie gefährdet bleiben. Der Handlungsoptimismus der Verfassungsgebung muss deshalb weiter vermittelt werden. Das ist nicht einfach in einer grenzenlos gewordenen Moderne, denn dahinter steht eine politische Aufklärungsphilosophie, wie sie zum Beispiel in Montesquieus „Geist der Gesetze“ (1748) zum Ausdruck kommt. Eine solche Verfassungsphilosophie versucht die grundlegenden Dinge über eine kluge, das heißt: historisch aufgeklärte und vorsichtig konstruktive verfassungsmäßige Ordnung zu regeln. Ohne dieses Kanon-Bewusstsein werden unsere Fähigkeiten verfallen, überhaupt noch in selbstläufige Modernisierungsprozesse vernünftig eingreifen zu können.

ZUR PERSON: Der Autor ist Philosoph und Professor an der Universität Potsdam. Er lehrt dort seit 1993 Politische Theorie.

+++

Neugierig geworden? Hier finden Sie die Brandenburger Landesverfassung als PDF >>

+++

Heinz Kleger

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false