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Mut zur Brücke. An der Warschauer Straße geht es die ganze Nacht lang rund. Clubs, Kneipen und Läden haben sich aufs Partyvolk eingerichtet.

© David Heerde

Brandenburg: Berlins Ballermann

Frauen in Plüschkostümen. Dealer, die mit der Polizei drohen. Taxis, die auf drei Reifen unterwegs sind. Wo sich Warschauer und Revaler Straße kreuzen, gerät das Berliner Feiervolk außer Kontrolle

Berlin - Um neun Uhr abends kniet Hassan L. (Name geändert) vor der Auslage seines Imbissladens nieder. Akribisch nimmt der Mittvierziger eine Limoflasche nach der anderen herunter. Auch Bifi-Würste und Schokoriegel lässt er irgendwo hinten im Laden verschwinden.

Um neun Uhr abends müssen auf der Warschauer Brücke die Limonaden und Schokoriegel in vielen Läden weichen – für das, was jetzt zählt: zwanzig Sorten Bier, Jägermeister, Sekt, Korn, Jim Beam, Smirnoff. Auch Hassan L. lädt so lange neue Flaschen nach, bis von unten bis oben alles voll ist mit Bier und Schnaps.

Über Berlin ist gerade die Sonne untergegangen, der Fernsehturm, zu dem man hier unwillkürlich blickt, ist ganz in Blau getaucht. Hassan L. ist seit 15 Jahren der Chef des Ladens und hat heute gute Laune. „Die Warschauer Brücke macht einfach Spaß. Das ist Multikulti!“, sagt er. Und beteuert, dass sein Laden rund um die Uhr geöffnet hat. Heute Nacht macht er persönlich die Schicht. „Hier eure zwei Becks“, ruft er seinen Kunden zu: „Feiert schön.“

Deshalb sind die ja hier oben auf der Warschauer Brücke an diesem Freitagabend. Es ist wird angestoßen, gelacht, geraucht. Rasend schnell werden es immer mehr Menschen. Unablässlich spucken S-Bahn, U-Bahn und Tram sie auf die Brücke. Kurz vor Mitternacht wird aus dem umtriebigen Menschengewusel ein Strom, der stetig Richtung Osten fließt, wo sich Warschauer und Revaler Straße kreuzen. Ganz deutlich sieht man noch die gelben Kreise und Linien, mit denen die Polizei einen Unfallort markiert hat: In der Nacht zu Donnerstag starb hier ein Motorradfahrer, die Spuren, so die Polizei, deuten darauf hin, dass er einem anderen Verkehrsteilnehmer, möglicherweise einem Fußgänger, ausgewichen ist. Bereits am Wochenende zuvor verletzte sich ein Radler schwer, als er in den Menschenmassen auf der Warschauer Brücke mit einem Fußgänger zusammenprallte.

Hier kommen alle vorbei, die auf dem Weg sind zur Cocktail-Meile in der Simon-Dach-Straße oder in die Nachtclubs auf dem RAW-Gelände. Zehntausende sind es an jedem Wochenende.

In dieser Freitagnacht ziehen an der Kreuzung zunächst ein paar Frauen die Aufmerksamkeit auf sich, die Plüschkostüme mit Entenschnabel tragen. Junggesellinnenabschied. Daneben tanzen acht Kerle, die Arme untergehakt, um einen neunten herum. Sie feuern ihn an, eine Flasche Wein auf ex zu trinken. Als Nummer neun die leere Flasche vom knallroten Kopf nimmt, ist Gebrüll sein Lohn.

Dann ziehen alle die Revaler Straße hinunter: der Weintrinker, seine Kumpels, die Damen in Plüsch. Die Frauen sind Deutsche, die Männer nicht. Man verständigt sich auf Englisch, und was an Sprachkenntnissen fehlt, macht der Alkohol wett. Den kauft man nicht bei Hassan L., sondern bei Kaiser’s. Der hat auch rund um die Uhr geöffnet und Sicherheitspersonal sowie eine große Bierpfütze direkt vor dem Eingang.

Rund um Warschauer, Revaler und Simon-Dach-Straße ist alles im Angebot, wofür die deutsche Hauptstadt angeblich steht: billige Getränke, Techno und die raue Kulisse eines alten Industrieviertels. „Alle vermarkten sich hier über das alternative Image Berlins. Mittlerweile entspricht das Viertel jedoch eher dem Ballermann“, sagt ein ehrlicher Barkeeper in der Simon-Dach-Straße.

„Alles hier ist sehr schnell gewachsen“, sagt hingegen Hassan L., ohne seinen Stolz zu verbergen. Sorgenfalten zeichnen seine Stirn nur, wenn er auf Taschendiebe und Dealer zu sprechen kommt. „Es sollte mehr Polizei hier sein, wir sind doch das Aushängeschild der Stadt.“

Dabei stehen gar nicht weit entfernt von seinem Laden zwei Kleinbusse der Bundespolizei, Unterstützungskräfte für die Berliner Beamten aus anderen Bundesländern. In Zwölf-Stunden-Schichten würden sie die „schwierige Verkehrssituation“ beobachten, sagt einer von ihnen mit freundlicher Miene. Breitbeinig steht er da und beißt in einen Döner. Über Diebstahl oder Drogen will er sich nicht äußern: „Wir sind halt in Berlin“.

Dass unmittelbar neben ihm der Reifen eines Taxis platzt, kann er wegen der Lautstärke nicht hören. Irgendjemand hat eine Glasflasche auf die Straße geworfen. Das Taxi hält nur kurz, fährt dann lieber erstmal auf drei Reifen weiter. Ganz in der Nähe verkaufen Drogendealer ihre Ware. Als jemand Fotos macht, droht einer der Dealer tatsächlich damit, die Polizei zu rufen. Die eilt ein paar Augenblicke später wirklich herbei, aber nicht wegen der Fotos oder der Drogen, sondern weil ein Junge am Wegesrand zusammengebrochen ist, den Blick leer gen Himmel gerichtet. „Seine Freunde sagen, dass er eine ganze Flasche Wodka getrunken hat“, sagt ein Polizist und überlässt den Jungen den Sanitätern.

Gegen drei Uhr herrscht noch immer Hochbetrieb – bei Hassan L. und auch im Dönerladen an der Pforte des RAW-Geländes. „Brauchst du was? MDMA, Ecstasy, Marihuana?“ Ein junger Mann wedelt mit einem Plastiktütchen voller blauer Tabletten. Zwei Schritte daneben pinkelt ein englischer Tourist auf den Bürgersteig.

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