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Judith Hermann in Ferch: Sehnsucht ist ein Tisch für drei

Schriftstellerin Judith Hermann las in der Kulturscheune Ferch aus „Lettipark“ und stellte eine noch unveröffentlichte Erzählung vor.

Von Sarah Kugler

Ferch - Mit der perfekten Kurzgeschichte kann sich Judith Hermann nicht wirklich anfreunden. Sie sei ihr fremd, zwischen ihr und dem Geschriebenen entstehe ein Abstand, sagt sie. Trotzdem hat sie mit „Gehirn“ genau so einen Text geschrieben, wie sie am Samstagabend in der Fercher Kulturscheune zugeben muss. Dort las sie auf Einladung des Kultur-Forum-Schwielowsee e.V. aus ihrem 2016 erschienen Erzählband „Lettipark“ und sprach mit Doris Sossenheimer über ihren Schreibprozess.

„Gehirn“, einer der 17 Texte in dem Buch, erzählt von einem Paar, das keine Kinder bekommen kann und deswegen adoptiert. Alles zentriert sich um den Zweijährigen, der einen neuen Namen bekommt und zu gesonderten Zeiten isst. In zwei Szenen wird die enorme Bedeutung des Kindes besonders deutlich – und gleichzeitig die Tragik dieser Familienkonstellation. Zu Beginn beschreibt Hermann das Wort Sehnsucht als einen hell eingedeckten Tisch für drei, am Ende sitzt die Familie an einem solchen Tisch, eine Einheit sind sie allerdings nicht.

Judith Hermann lebt lange mit ihren Figuren

Auch wenn Hermann ihren Text selbst als astreine Kurzgeschichte bezeichnet, ist er für sie der kälteste in ihrem vierten Erzählband. Die Figuren seien ihr fremd, was ungewöhnlich ist, denn eigentlich spricht Hermann über ihre Charaktere wie andere über gute Freunde. Sie begleiten sie lange, sie verbringt gerne Zeit mit ihnen, wie sie erzählt. Während des Schreibprozesses sind sie allerdings erst der zweite Schritt, am Anfang steht häufig eine Bemerkung, die Hermann irgendwo aufschnappt. Erst dann sucht sie den Charakter, der dazu passt, nicht immer gleicht er der Person, die den Satz wirklich ausgesprochen hat. Manchmal inspiriert sie auch ein Bild, das ihr auffällt. Stella, die Protagonistin in ihrem bisher einzigen Roman „Aller Liebe Anfang“, habe Hermann etwa bei einem Spaziergang in England entdeckt. In einer Häusersiedlung hinter einem Panoramafenster habe sie zusammen mit ihrem Kind gestanden. „Ich habe sofort eine große Sehnsucht nach dieser Person verspürt“, erzählt Hermann, die für ihre Werke bereits mehrfach ausgezeichnet wurde. Sie habe sich zusammenreißen müssen, nicht länger stehen zu bleiben und die unbekannte Frau zu studieren.

Für sie sei das Nachdenken über ihre Geschichten der längste Prozess. An ihrer präzisen, sehr verdichteten und doch so poetischen Sprache müsse sie hingegen nicht lange feilen. Einmal angefangen zu schreiben, stünde sowohl die Erst- als auch die Endfassung relativ schnell, erzählt Hermann. Allerdings fällt ihr die Entscheidung für die richtige Handlung immer schwerer: „Wenn ich mich auf eine Version festlege, entscheide ich mich gegen 150 andere Möglichkeiten“, erklärt sie. Das sei nie leicht.

Perfektion im Unperfekten

In ihren Texten zeigt sie immer wieder, dass ihr Gespür genau richtig ist. Nicht nur in den Erzählungen aus „Lettipark“ – den Titel findet sie als Wort besonders schön –, sondern auch in einer noch unveröffentlichten Geschichte mit dem Titel „Bakelit“, die sie am Samstag vorstellte.

Eine Geschichte über eine junggebliebene Frau um die 70, die seit ihrer Kindheit einen Knopf aus dem Kunststoff Bakelit unter ihrer Zunge trägt. Beschützen soll er die alte Dame, die eine Fahrradtour auf das Land unternimmt und nur mit Nachthemd „wie ein altes Sterntalermädchen“ im Garten steht. Zauberhaft und traurig ist diese Geschichte, die eventuell auch noch publiziert werden soll, wie Hermann verrät.

Im Moment arbeitet sie an einem neuen Buch, ein längerer Text, wie sie hinzufügt. Und auch wenn sie zum Inhalt noch nichts sagen kann, steht bereits fest: Er wird perfekt sein – auf Hermanns ganz eigene unperfekte Art. 

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