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Gemischte Gefühle. Die Caputherin Siegrid Müller-Holtz war eine der ersten Künstlerinnen, die die Berliner East Side Gallery verzieren durften. Nun bangt die 64-Jährige um ihr Werk, das sie erst vor vier Jahren mit Pinsel und Farbe erneuert hat.

© Privat

Potsdam-Mittelmark: „Gemischte Gefühle“ in Gefahr

Caputher Künstlerin bangt um ihr Bild auf der East Side Gallery

Caputh/Berlin - Das Gedicht ist nicht neu, doch mahnender und aktueller hätten die Worte der Caputher Künstlerin Siegrid Müller-Holtz für das heutige Geschehen an der Berliner East Side Gallery nicht sein können: „Schau mit wachsamen Augen auf die Welt. Stelle Fragen! Das Unheil abzuwehren, gemacht von Menschenhand“. In Mädchenschreibschrift hat Müller-Holtz ihre Aufforderung Anfang der 90er Jahre an die Mauerreste gemalt. Heute recken nur wenige Meter entfernt Demonstranten Protestschilder in die Höhe, denn Teile der Galerie sollen einem Wohnhaus weichen.

„Dann wäre mein schönes Bild weg“, sagt Siegrid Müller-Holtz. Seit in der vergangenen Woche Kräne am Nordufer der Spree anrückten, um Teile des monumentalen Kunstwerks herauszutrennen, ist die 64-jährige Chefin des Ateliers Pro Arte in Aufruhr. Sie gehörte Anfang der 90er Jahre zu den ersten von 111 Künstlern aus aller Welt, die das größte verbliebene Mauerstück Berlins verzieren durften. Ihr Bild „Gemischte Gefühle“ zeigt einen vom Himmel fallenden Ball, der den Boden in Stücke zersprengt.

Auf 1,3 Kilometern schlängelt sich die East Side Gallery durch Berlin. Weltberühmt sind der Trabbi, der die Mauer durchbricht, oder das Gemälde vom Bruderkuss zwischen Honecker und Breschnew. Das Kunstwerk darf nicht zerstört werden, sagt Müller-Holtz. „Da muss man protestieren.“ Schon über 600 E-Mails hat die Caputherin an Freunde und Kunstliebhaber versendet, mit der Bitte, sich auf der Online-Plattform change.org an einer Petition zu beteiligen.

Knapp 65 000 Menschen haben schon unterzeichnet. Die Arbeiten sind vorerst gestoppt. Die Lücke, die die Entfernung des ersten Mauerstücks am Freitag hinterlassen hatte, haben Demonstranten des Bündnisses „East Side Gallery Retten“ mit Schildern und Plakaten gefüllt.

„Wenn man mit einem Stückchen anfängt, wo soll das enden?“, fragt Müller-Holtz. Ein Luxusbau sein kein vernünftiger Grund, das Kunstwerk auseinanderzunehmen. Die Galerie sei das einzige Stück Mauer, dass in seiner Länge erahnen lasse, wie es im geteilten Deutschland war. „Mich hat es schon 1990 geärgert, dass in kürzester Zeit alle Mauerteile weggerissen wurden.“ Ein Teil der deutschen Geschichte sei damit verschwunden. Und auch ein Teil ihrer eigenen. 1957 flüchtete Müller-Holtz als Neunjährige mit ihren Eltern in die Bundesrepublik. Nach dem Mauerfall kehrte sie zurück.

In sechs Wochen Arbeit trug sie in Berlin ihr Gemälde auf die sechs Mauersegmente auf. „Ich musste mich bewerben und eine Skizze einreichen.“ Bis heute erhält sie Briefe von Schulkindern, die nach Autogrammen fragen, von alten Schulkameraden, die wieder mit ihr in Kontakt treten, aber auch Anrufe von Journalisten und Wissenschaftlern aus der ganzen Welt, die sich mit dem Kunstwerk befassen. „Ich verstehe die Stadt Berlin nicht“, sagt Müller-Holtz. Die Galerie sei ein Magnet sondergleichen.

Erst 2009 war die Künstlerin wie ihre 110 Kollegen dazu aufgerufen worden, ihr Bild zu restaurieren. Die unglaubliche Nachricht vom Mauerfall, die Freude danach – und Begegnungen mit Menschen aus aller Welt: All das konnte sie damals noch einmal durchleben. Zu einem Zeitpunkt, als in Berlin bereits klar war, dass Teile der Mauer werden weichen müssen.

Es ist die Unehrlichkeit der Politik, die die Künstlerin anklagt. „Die wussten genau, dass sie Ärger kriegen“, sagt Müller-Holtz. Deshalb sieht sie mit Freuden, dass sich jetzt so viele Menschen für den Erhalt der Galerie und damit auch ihres Bildes einsetzen. „Ich war sehr angetan und überrascht.“ Daran sehe man, wie sehr die Leute hinter der East Side Gallery stünden. Tobias Reichelt

Seiten 3 und 8

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