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Wolfgang Kubicki will keine grundrechtsbeschränkenden Maßnahmen ohne nachgewiesene Wirksamkeit.

© picture alliance / photothek

Debatte um Corona-Maßnahmen: Wer Grundrechte einschränken will, braucht Beweise für die Wirksamkeit

Die Ampel-Koalition muss sich auf den Pandemiekurs für den Herbst einigen. FDP-Politiker Kubicki erklärt, was dabei beachtet werden muss. Ein Gastbeitrag.

Dieser Tage war zu lesen, dass das chinesische Staatsfernsehen eine besondere Methode anwendet, um auf die Überlegenheit der dortigen Corona-Bekämpfungsstrategie hinzuweisen.

Allabendlich, in den Hauptnachrichten, werden die Zuschauer mit folgender Frage konfrontiert: Was seien die in Europa oder Nordamerika so oft und laut beschworenen Menschenrechte wert, wenn durch eine lasche Corona-Politik das wichtigste von allem, nämlich das Recht auf Leben, am Ende gefährdet wird?

Mit dieser Argumentation werden die Null-Covid-bedingten Einschließungen ganzer Städte, wie zum Beispiel Shanghai, zu einem vermeintlich humanen und denklogisch notwendigen Fortschrittskonzept gewendet. Der Wert menschlichen Lebens wird also heruntergedampft, skelettiert und zu einem reinen Überleben kleingedeutet.

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Es ist eine zutiefst freiheitsfeindliche Denkweise, die in Grundzügen manchmal leider auch hierzulande ihre Anhänger findet. Denken wir dies weiter, bedeutet es auch: Wer dieses Supergrundrecht auf Leben nach chinesischem Vorbild fordert, muss konsequenterweise alles beiseite räumen, was diesem Ziel im Wege steht und potenziell tödlich enden kann – Mobilität, Haushaltsleitern, einseitige Ernährung, Bewegungsmangel, Viren.

Am Ende bleibt die entscheidende Frage: Handelt ein Staatswesen, das dieses Ziel absolut setzt, dann aber eigentlich noch menschenwürdig?

Es mutet geradezu seltsam an, dass solch eine Frage just zu einer Zeit diskutiert wird, in der sich der Deutsche Bundestag wieder dem Thema der Suizidhilfe widmet. In der vergangenen Orientierungsdebatte waren sich viele meiner Kollegen einig, dass sich der Staat in diesen sehr persönlichen Fragen herauszuhalten habe.

Wehklagen ist unseriös und billig

Selbstbestimmtes Sterben in Würde sollte nach deren Ansicht möglich sein. Wäre es dann nicht inkonsequent, wenn selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben in Würde unter einen eng staatsdefinierten Vorbehalt gestellt wird?

Die Koalitionäre der SPD, Grünen und Freien Demokraten werden in den kommenden Wochen sehr intensiv über den künftigen Corona-Kurs diskutieren müssen. Klar ist für mich, dass nach zweieinhalb Jahren der Pandemie grundrechtsbeschränkende Maßnahmen ohne nachgewiesene Wirksamkeit nicht mehr eingesetzt werden können.

Das Bundesgesundheitsministerium und das ihm zugeordnete Robert Koch-Institut waren in der gesetzlichen Pflicht, diese Daten und Erkenntnisse zu gewinnen. Insofern ist das bisweilen zu vernehmende Wehklagen, man hätte nicht ausreichend Datenmaterial – zugleich aber den festen Glauben, dass bestimmte Maßnahmen wirkten – unseriös und billig.

Denn an grundrechtlichen Erinnerungen aus dem parlamentarischen Raum, dass diese Aufgabe im verfassungsmäßigen Rechtsstaat von den dafür vorgesehenen Institutionen zu leisten ist, hat es nicht gemangelt. So hatten die Freien Demokraten bereits im Winter 2020/21 nach der Wirksamkeit der damals eingesetzten Anti-Corona-Maßnahmen gefragt (BT-Drs. 19/25952) und diese Fragen später mehrfach – ohne Erfolg – wiederholt.

Insofern steht fest: Wenn es heute, nach rund 30 Monaten pandemischer Erfahrung keine solchen Erkenntnisse gibt, gibt es keine Basis für entsprechende Grundrechtsbeschränkungen. Sich auf Ahnungslosigkeit zu berufen, ist nicht mehr drin.

Eine Fülle von Maßnahmen ist schon heute möglich

Wer nun der FDP vorwirft, sie verhindere mit ihrer angeblich egomanischen Sturheit, dass Deutschland vorbereitet in die erwartete Herbstwelle geht, verkennt, dass es eine Fülle von Maßnahmen gibt, die bereits heute unterhalb der Schwelle der Grundrechtseinschränkungen vorbereitet werden können – und vernünftigerweise vorbereitet werden müssen.

Wer den jüngsten Bericht des Corona-Expertenrates aufmerksam gelesen hat, und nicht dessen reißerischen und verzerrenden medialen Zusammenfassungen, konnte darin einen in weiten Teilen ziemlich abgewogenen und – ja! – selbstkritischen Beitrag zur bisweilen hysterischen coronalen Debattenkultur erblicken.

Neben dem Aufruf, auch den Berichten über Impfschäden mehr Gehör zu verleihen, las man dort den Appell, der polarisierten gesellschaftlichen Haltung konstruktiv – also nicht ausgrenzend, vielmehr verständnisvoll – zu begegnen, um damit gesellschaftliche Gräben wieder zuzuschütten.

Und ebenso wichtig: Der Expertenrat hat dem Bundesgesundheitsminister für die kommenden Monate einen großen Aufgabenkatalog an die Hand gegeben. Und hier ist festzuhalten: Jede Maßnahme, die unterhalb von Grundrechtseingriffen ansetzt und dazu geeignet ist, Deutschlands Gesundheitswesen, seine Dateninfrastruktur, die medikamentöse und stationäre Versorgungslage proaktiv auf die kommenden Herausforderungen im Herbst vorzubereiten, werden die Freien Demokraten selbstverständlich mittragen und nach Kräften unterstützen.

Hierzu zählen zum Beispiel die schnellstmögliche Bestimmung der Impf- und Immunitätslücken für Covid-19, die Ertüchtigung der Kinderkrankenstationen für die erwartete respiratorische Krankheitswelle, die sichtbare Steigerung der Attraktivität des Pflegeberufes und anderer Gesundheitsberufe oder die Verbesserung der Nationalen Reserve Gesundheitsschutz.

Und selbstverständlich müssen wir dringend über die Abmilderung der pandemischen Sekundärfolgen bei Kindern und Jugendlichen sprechen. Wir haben die Pflicht, die Schäden, die durch die politischen Maßnahmen entstanden sind, ebenfalls anzugehen.

Es stehen wichtige Entscheidungen an. Diese müssen sich immer am Maßstab der Verhältnismäßigkeit messen lassen. Wer meint, Pandemie- und Pandemiefolgenbekämpfung seien nur wirkungsvoll, wenn sie auf Grundrechtsbeschränkungen zurückgreifen, irrt gewaltig.
Wolfgang Kubicki ist seit 2013 stellvertretender Bundesvorsitzender der FDP und seit 2017 Vizepräsident des Deutschen Bundestages.

Wolfgang Kubicki

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