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Auch die Bundeskanzler Olaf Scholz und seine Ministerinnen und Minister klatschten nach der Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj stehend Beifall.

© Christian Ditsch/IMAGO/epd

Präsident erhebt Vorwürfe gegen Deutschland: Selenskyjs Anklage im Bundestag

Der ukrainische Staatschef kritisiert Versäumnisse der Deutschen und bittet um mehr Hilfe – doch eine Debatte im Bundestag gibt es nicht.

Die Rede des Gastes kann erst mit Verspätung beginnen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj soll per Video in den Bundestag zugeschaltet werden. In Kiew habe es einen „Anschlag in unmittelbarer Nähe“ gegeben, sagt die Parlamentsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne). Gemeint ist wohl ein weiterer russischer Luftangriff auf die ukrainische Hauptstadt. Denn während sich die Abgeordneten im Plenarsaal versammeln, heulen in Kiew wieder die Sirenen.

Als Selenskyj dann auf den großen Bildschirmen zu sehen ist, in olivgrünem Hemd und vor der Flagge seines Landes, erheben sich die Abgeordneten, der Bundeskanzler, die Minister und Ministerpräsidenten und klatschen dem Präsidenten stehend Beifall. Vor dem Reichstagsgebäude weht zwischen der deutschen und der EU-Flagge auch die ukrainische Fahne.

Genau drei Wochen sind seit dem Beginn des groß angelegten russischen Überfalls auf die Ukraine vergangen. Am Vorabend der Selenskyj-Rede ist bekannt worden, dass die russische Armee einen Luftangriff auf das Theater in der belagerten Stadt Mariupol verübt hat, ein Gebäude, in dem Hunderte von Frauen und Kindern vor den Bomben und Raketen der russischen Armee Zuflucht gesucht haben. Während die Abgeordneten in Berlin der Rede des Präsidenten zuhören, suchen Helfer in den Trümmern des Theaters nach Überlebenden. „Mit Entsetzen sehen wir, dass die russischen Truppen bewusst zivile Ziele angreifen“, sagt Göring-Eckardt vor der Rede des Präsidenten. Das sei ein „eklatanter Verstoß“ gegen das Völkerrecht. Mariupol werde eingekesselt und dem Erdboden gleichgemacht, sagt Selenskyj in seiner Rede. Theater, Geburtskliniken, Kinderkrankenhäuser, Wohngebiete - „es wird alles zerstört“, sagt der Präsident. „Seit fünf Tagen wird Mariupol ununterbrochen beschossen, damit wir unsere Leute nicht retten können.“

Eine neue Mauer in Europa, die Freiheit und Unfreiheit trennt

An die Abgeordneten und Regierungsvertreter gewandt fügt der Präsident hinzu: „Sie können das alles sehen, wenn Sie hinter die Mauer schauen.“ Selenskyj verwendet in dieser Rede ein sprachliches Bild, das an die historischen Erfahrungen der Deutschen anknüpft. Er spricht von einer neuen Mauer in Europa, die Freiheit und Unfreiheit trennt. „Diese Mauer wird größer mit jeder Bombe, die auf die Ukraine fällt, mit jeder nicht getroffenen Entscheidung, die uns helfen könnte.“

So wird Selenskyjs Rede zu einer Anklage, einer Abrechnung mit der bisherigen Politik der Bundesregierung. „Sie wollen nicht hinter die Mauer schauen.“ Der Präsident verweist auf deutsche Firmen, die in Russland Geschäfte gemacht und so zur Finanzierung des Krieges beigetragen haben. Er erinnert daran, dass die Ukrainer immer wieder vor einer Fertigstellung der Gaspipeline Nord Stream 2 gewarnt hatten. Die Antwort der Deutschen sei gewesen: „Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft.“

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Kritisch sieht der Staatschef auch die deutsche Haltung zu einem Nato-Beitritt der Ukraine, es habe geheißen, diese Frage sei noch nicht auf dem Tisch. So hatte sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) kurz vor der russischen Invasion bei einem Besuch in Moskau geäußert. Dass die Bundesregierung auch einen baldigen EU-Kandidatenstatus seines Landes nicht befürwortet, wirft Selenskyj den Deutschen ebenfalls vor.

In seiner Rede vor dem Bundestag erinnert der ukrainische Präsident auch an die historische Verantwortung der Deutschen. Jedes Jahr wiederhole die Politik: „nie wieder“, sagt Selenskyj. „Jetzt sehen wir, dass diese Worte einfach nichts wert sind.“ In Europa werde ein Volk vernichtet. Von den russischen Truppen seien bereits 108 ukrainische Kinder getötet worden.

„Geben Sie Deutschland die Führungsrolle, die es verdient“

Die bisherigen Sanktionen hätten anscheinend nicht ausgereicht, diesen Krieg zu stoppen. Deswegen wendet sich Selenskyj zum Schluss seiner 15-minütigen Rede direkt an den Kanzler. Dabei erinnert er an die Worte eines anderen ehemaligen Schauspielers, der Staatschef geworden ist, an den früheren US-Präsidenten Ronald Reagan und dessen Aufforderung, die Mauer niederzureißen. „Lieber Herr Bundeskanzler Scholz, zerstören Sie diese Mauer! Geben Sie Deutschland die Führungsrolle, die es verdient. Unterstützen Sie die Ukrainer! Stoppen Sie diesen Krieg, helfen Sie uns, diesen Krieg zu stoppen!“

Als diese dramatischen Worte im Plenarsaal verhallt sind, erheben sich alle Anwesenden noch einmal zu stehendem Applaus. Dann verschwindet Selenskyj von den Bildschirmen. Göring-Eckardt sagt noch ein paar Worte über Kontakte zum ukrainischen Parlamentspräsidenten, bevor sie den Einstieg in die Tagesordnung ankündigt. Zwei Minuten nach dem Appell des Präsidenten geht es nun um Geburtstage und die Besetzung von Gremien. Doch in den Reihen von CDU und CSU regt sich lautstarker Protest. „Pfui“-Rufe sind zu hören, das sei „unwürdig“, ruft ein Abgeordneter.

Die Union kritisiert, dass es nach der Rede des Staatspräsidenten keine Aussprache gibt. Mit einem Antrag zur Geschäftsordnung versucht die Union am Donnerstagmorgen, dies doch noch durchzusetzen. Knapp drei Wochen nach der „eindrucksvollen Regierungserklärung“ des Kanzlers zum Krieg in der Ukraine sei es Zeit für eine „Zwischenbilanz“, sagt Unionsfraktionschef Friedrich Merz (CDU). Man müsse fragen: „Haben wir das richtig gemacht? Gibt es Entscheidungen, die korrigiert werden müssen?“ Merz fordert Scholz auf, sich ein weiteres Mal zu erklären.

Die Ampel-Parteien werfen dagegen der Union vor, dass sie noch am Mittwoch der Tagesordnung zugestimmt habe. Von „parteipolitischen Spielchen“ spricht FDP-Fraktionschef Christian Dürr, die Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann nennt das Vorgehen der Union eine „Inszenierung“. Rückendeckung bekommt die Union dagegen von ungewohnter Seite. Der Linken-Abgeordnete Jan Korte betont, seine Fraktion unterstütze die Position von CDU und CSU. Dafür erhält er wiederum Applaus von der Union. An Scholz gerichtet sagt Korte: „Sie müssen aufpassen, dass Sie nicht nach 100 Tagen schon so arrogant sind wie andere nach 16 Jahren.“ Die Ampel-Koalition lehnt am Ende den Antrag auf Aussprache ab, und das Parlament geht zur Tagesordnung über.

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