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Der Verfasser der „NSU 2.0“-Drohschreiben im Gerichtssaal.

© Archivfoto: dpa

Urteil im „NSU 2.0“-Prozess: Drohbriefschreiber muss fast sechs Jahre ins Gefängnis

Der Angeklagte, Alexander Horst M., leugnete die Taten bis zum Schluss. Betroffene fordern weitere Aufklärung über die Rolle der Polizei.

Zu fast sechs Jahren Haft ist der Drohbriefschreiber Alexander Horst M. am Donnerstag vom Landgericht Frankfurt am Main verurteilt worden. Die Staatsanwaltschaft hatte eine Haftstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten gefordert. Zwischen August 2018 und März 2021 hatte M. mehr als 80 Drohschreiben per E-Mail, Fax oder SMS verschickt – gespickt mit Todesdrohungen sowie rassistischen, sexistischen und misogynen Beschimpfungen.

„Heil Hitler, Ihr Scheiss-Aktivist:innen, wir legen Euch alle um“, so und ähnlich lauteten die Zeilen M.s, mit denen er die Betroffenen und ihre Familien in Angst und Schrecken versetzte. Unterschrieben waren sie mit „NSU 2.0“. Der Absender spielt auf die rechtsextreme Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) an, die von 2000 bis 2007 neun Migranten und eine Polizistin ermordete.

80
Drohschreiben soll M. verschickt haben.

Zielscheibe von M.s Hass waren vor allem Frauen des öffentlichen Lebens wie die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz, die im NSU-Prozess die Familie des erschossenen Enver Simsek vertreten hatte. Im August 2018, einen Monat nach dem Urteil, begann die Serie von Morddrohungen gegen Basay-Yildiz
und ihre Familie. Betroffen waren außerdem die Linke-Vorsitzende Janine Wissler und der Satiriker Jan Böhmermann, Bundestagsabgeordnete, Parlamentarier:innen des hessischen Landtags, Künstler und Menschenrechtsaktivisten.


Knapp vier Jahre nach dem Beginn der Serie sprach das Gericht M. unter anderem der Bedrohung und Beleidigung schuldig. Das Urteil erging außerdem wegen öffentlicher Aufforderung zu Straftaten, Androhung von Straftaten und Nötigung. Die Staatsanwaltschaft ist davon überzeugt, dass M. auch für Bombendrohungen gegen Gerichte verantwortlich ist, sie hatte ihn auch wegen Beleidigung und versuchter Nötigung, Störung des öffentlichen Friedens und Volksverhetzung angeklagt.

Der Prozess hat gezeigt, wie schrecklich es sein kann, wenn Menschenwürde durch Sprache angetastet wird:

Corinna Distler, Vorsitzende Richterin am Landgericht Frankfurt am Main.

Der aus Berlin stammende M. wies die Vorwürfe zurück. Er behauptete, Mitglied einer Chatgruppe im Darknet, aus der heraus die Schreiben verschickt worden seien, gewesen zu sein. Er selbst habe sich jedoch nicht daran beteiligt.

Das Gericht sei jedoch überzeugt, dass der Angeklagte die Briefe „alle allein geschrieben“ habe, sagte die Vorsitzende Richterin Corinna Distler bei der Urteilsverkündung. Distler führte weiter aus, der Prozess habe gezeigt, „wie schrecklich es sein kann, wenn Menschenwürde durch Sprache angetastet wird“. Die Opfer fühlten sich hilflos und würden traumatisiert. Das Gericht habe versucht, dem Auftrag der Verfassung gerecht zu werden und den Täter zu ermitteln. „Das ist uns gelungen.“

Lange richtete sich der Verdacht gegen die Polizei

Um die Drohwirkung zu verstärken, soll M. zum Teil nicht frei zugängliche Daten der Betroffenen genannt haben. Weil diese Daten von Computern der hessischen Polizei abgerufen worden waren, richtete sich der Verdacht lange Zeit gegen die Polizei. Auch deshalb sorgte der Fall für besonders große mediale Aufmerksamkeit.

Die Betroffenen sind davon überzeugt, dass es sich nicht um einen Einzeltäter handeln könne und wittern Mittäter bei der Polizei. Zwar konnte dieser Verdacht durch die Ermittlungen nicht bestätigt werden, jedoch traten andere schockierende Ergebnisse zutage:

Betroffene gehen von weiteren Tätern aus

Es kam heraus, dass einige hessische Polizist:innen in einer Chatgruppe waren – voller rassistischer und antisemitischer Inhalte. Experten fordern deshalb weitere Aufklärung. „Das Urteil muss man akzeptieren. Sicher ist nicht der ganz Falsche getroffen worden“, sagte Rafael Behr, Professor für Polizeiwissenschaften an der Akademie der Polizei Hamburg.

Ich hoffe, dass nach dem Urteil etwas Ruhe in die Auseinandersetzung kommt und dass die Kräfte, die bemüht sind, für Aufklärung zu sorgen, nicht nachlassen oder stumm geschaltet werden.

Rafael Behr, Polizeiwissenschaftler.

Es gebe erhebliche Zweifel daran, ob damit alles restlos aufgeklärt sei. Insbesondere die direkte und die indirekte Rolle von hessischen Polizist:innen sei immer noch weitgehend nebulös. „Die Vorgesetzten und Verantwortungsträger schweigen. Nur die Gewerkschaft spricht – und die spricht die Beamten schon mal frei.“

Behr habe das Gefühl, dass man eigentlich nicht herausbekommen wolle, wie es wirklich um die Rassismusanfälligkeit in der Polizei stehe. „Ich hoffe, dass nach dem Urteil etwas Ruhe in die Auseinandersetzung kommt und dass die Kräfte, die bemüht sind, für Aufklärung zu sorgen, nicht nachlassen oder stumm geschaltet werden.“ In jedem Fall habe die Polizei Vertrauen verloren. „Das lässt sich auch nicht dadurch gewinnen, dass kritische Fragen verboten werden.“ 

Das Urteil setze zwar ein deutliches Signal gegen rechte Drohungen, Es blieben aber viele Fragen offen, sagte Janine Wissler, Betroffene und Parteivorsitzende der Linken, dem Tagesspiegel. „Ich halte die These des Einzeltäters im NSU 2.0-Komplex für nicht plausibel. Der Fokus muss auf die Offenlegung der Strukturen dahinter gelegt werden.“ Das Bestehen rechter Netzwerke innerhalb der hessischen Polizei auszuschließen, wie das der hessische Innenminister tue, sei Wunschdenken und Realitätsverleugnung. „Gut, dass der Täter ermittelt und heute verurteilt wurde, NSU 2.0 ist damit aber nicht vollständig aufgeklärt.“

Ähnlicher Ansicht ist der Verein Hateaid, der Opfer digitaler Gewalt berät. Die Polizei müsse die rechten Tendenzen in ihren eigenen Reihen klären, beheben und ihnen vorbeugen, sagte Geschäftsführerin Anna-Lena von Hodenberg dem Tagesspiegel. „Sie muss Betroffene ernst nehmen und sie vollumfänglich unterstützen. Und zwar nicht erst, wenn der nächste Skandal öffentlich wird.“ Juristisch mag der Fall NSU 2.0 abgeschlossen sein – politisch ist er es noch lange nicht.

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