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© Tagesspiegel / European Focus

European Focus #9: „Wir brauchen mehr Kinder!“

+++ Als Babys die Regierung zu Fall brachten +++ 24.500 +++ Schuld sind immer die Frauen +++ Verspätete helfende Hand +++ Frauen, Kinder, Propaganda +++

Von

Hallo aus Warschau,

in Polen hat eine aktuelle Debatte über die niedrige Geburtenrate wieder einmal aufgezeigt, wie Frauen von Politikern instrumentalisiert werden – allen voran von Jarosław Kaczyński, dem Vorsitzenden der Partei Recht und Gerechtigkeit sowie heimlichen Landes-Herrscher im Hintergrund. Bei einem Treffen mit Wählern erklärte er kürzlich, die niedrige Geburtenrate sei auf den Alkoholmissbrauch junger Frauen zurückzuführen.

Es folgte ein Aufschrei, da viele Frauen seine Worte (zu Recht) als beleidigend empfanden. Kaczyński selbst hat keine Familie, war nie verheiratet und über seine Beziehungen zu Frauen oder Männern ist nichts bekannt. Dennoch äußert er sich immer wieder gerne zu Familienfragen. Männer, die für Frauen und über deren Köpfe hinweg entscheiden, sind in Polen leider keine Seltenheit. Wenn Politiker zu einer Fernsehdebatte über Abtreibungsrechte eingeladen werden, kommen nur Männer zu Wort.

Auch in Spanien, Italien und Nordmazedonien zeigen sich Politiker äußerst besorgt angesichts der jeweiligen demografischen Entwicklung. Die Stimmen der Frauen zählen auch dort meist nicht viel.

Michał Kokot, dieswöchiger Chefredakteur

Als Babys die Regierung zu Fall brachten

Dolchstoßmoment: Ministerpräsidentin Kaja Kallas stellt während einer Pressekonferenz fest, dass ihre Koalitionspartner (im Bild links und rechts von ihr) hinter ihrem Rücken gegen sie arbeiten.

© Foto: Rauno Volmar, Delfi

„Sie sind Teil unseres Problems mit dem Bevölkerungswachstum,“ sagte Martin Helme, der derzeitige Vorsitzende der rechtsextremen estnischen Partei EKRE, im Jahr 2016 gegenüber einer 27-jährigen Journalistin.

Sie hatte ihn damals gefragt, ob es falsch sei, dass sie zum aktuellen Zeitpunkt keine Kinder haben wolle. Er nannte sie deswegen ein „gesellschaftsschädigendes Element“. Dieses Zitat geistert seitdem immer wieder durch die weiterhin anhaltende Baby-Debatte in Estland.

Helmes Aussage wurden von Liberalen scharf kritisiert; der Popularität seiner EKRE hat sie jedoch nicht geschadet. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs erlebt Estland einen rapiden Rückgang der Geburtenrate. Mark Gortfelder, Demograf an der Universität Tallinn, weist jedoch darauf hin, dass die existenzielle Sorge um das „demografische Überleben“ schon länger besteht als die 104 Jahre alte Republik Estland.

In Estland ist die Frage dieses Überlebens stärker verankert als in den meisten anderen Teilen Europas. Jede Regionalmacht hat zu irgendeinem Zeitpunkt in der Geschichte das Baltikum oder zumindest große Teile davon kontrolliert. Die meisten dieser Phasen waren mit einem enormen Verlust estnischer Leben verbunden.

Estlands erste Periode einer De-facto-Unabhängigkeit (1918 bis 1940) wurde durch den Zweiten Weltkrieg beendet. Dies war von Massenmorden und Deportationen begleitet. Zwischen 1945 und 1989 stieg durch Migration der Anteil der nicht-estnischen Bevölkerung in der kleinen Sowjetrepublik von drei auf 38 Prozent. So mehrten sich Befürchtungen, Estinnen und Esten würden bald „eine Minderheit im eigenen Land“ sein.

Aus diesen Gründen fällt die Debatte ums Kinderkriegen in der estnischen Politik stets auf fruchtbaren Boden.

Für Ministerpräsidentin Kaja Kallas führte dies kürzlich dazu, dass sie sich von ihren Koalitionspartnern lossagte, die gemeinsam mit der EKRE hinter ihrem Rücken einen Gesetzentwurf für eine massive Erhöhung der Familienförderung eingebracht hatten. Tatsächlich sind viele Fachleute der Ansicht, dass eine solche Maßnahme die Geburtenrate nicht wesentlich erhöhen wird.

Der Preis für Kallas, ihren Job zu behalten, war hoch. Auch ihre neuen Koalitionspartner forderten bereits üppige Beihilfen für Familien. Genau deswegen war die vorherige Regierung gescheitert.

Herman Kelomees ist Journalist bei Delfi in Tallinn und berichtet hauptsächlich im Ressort Politik.

Zahl der Woche: 24.500

Zahl der Woche.

© Foto: Karolina Uskakovych, European Focus

In Ungarn können alle Ehepaare ein zinsloses Darlehen in Höhe von 24.500 Euro (10 Millionen Forint) in Anspruch nehmen. Nach der Geburt eines ersten Kindes sind drei Jahre lang keinerlei Rückzahlungen fällig, nach dem zweiten Kind werden 30 Prozent der Schulden gestrichen, und nach dem dritten Kind die gesamte Schuld erlassen.

Entsprechend dem Regierungsslogan für ein „familienfreundliches Land“ gilt dieser finanzielle Vorteil allerdings nur, solange die Bürgerinnen und Bürger ihren „familiären Verpflichtungen“ nachkommen.

Wenn sich das Paar vor dem fünften Hochzeitstag scheiden lässt oder keine Kinder bekommt, verwandelt sich die Unterstützung in eine Strafe: Die Subvention muss nicht nur komplett an den Staat zurückgezahlt werden, sondern dies auch zum aktuellen Marktzinssatz.

Viktoria Serdült ist Journalistin beim Nachrichtenportal hvg.hu aus Budapest. Sie befasst sich mit der ungarischen Innen- und Außenpolitik, der Europäischen Union sowie sozialpolitischen Themen.

Schuld sind immer die Frauen

Die Autorin als Kind mit ihren Eltern und einer Schwester.

© Foto: privat

Ich stamme aus einer katholischen Familie und habe drei Schwestern. Wenn ich darüber sinniere, selbst Kinder zu bekommen, denke ich vor allem an die ungewisse Zukunft. Die Krise von 2008 war ein Schock für den spanischen Arbeitsmarkt. Menschen, bei denen es vorher schien, als würden sie „auf Lebenszeit“ in ihrem Betrieb arbeiten, fanden sich mit anderen in der Warteschlange vor dem Arbeitsamt wieder. Plötzlich gab es eine deutlich erhöhte „Entlassungsflexibilität“ und zugleich keine Aussicht auf eine schnelle Wiedereinstellung in einem anderen Unternehmen.

Wenn ich aktuell nicht weiß, ob ich in fünf Jahren noch einen Job habe, wie soll ich mich dann auf eine so langfristige Verpflichtung wie die Geburt eines Kindes einlassen?

Man hört schrille Warnungen über das Schrumpfen der europäischen Bevölkerung, Spaniens Geburtenrate gehört zu den niedrigsten in Europa – und derweil schieben Politiker jungen Frauen und ihrem Lebensstil den Schwarzen Peter zu: Schuld sind immer die Frauen.

Schuld am Geburtenrückgang haben demnach Frauen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen; Schuld haben Frauen, die sich auf ihre Karriere konzentrieren wollen; Schuld haben gar „egoistische“ Frauen, die die kinderfreien Jahre ihrer Jugend ins Erwachsenenalter ausdehnen. Wenn Politiker die Geburtenrate ansprechen, geht es jedoch seltsamerweise nie um Themen wie Wohnraum, wirtschaftliche Unsicherheit, den Arbeitsmarkt oder die explodierenden Lebenshaltungskosten. Die Regierung müsste das Demografie-Problem ganzheitlich angehen. Bisher gab es diesbezüglich leider immer nur Enttäuschungen.

Anstatt mich davon überzeugen zu wollen, Kinder zu bekommen, könnte die Regierung beispielsweise versuchen, den Arbeits- oder den Wohnungsmarkt in Ordnung bringen. Nach vielen Jahren in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen bekam ich mit 27 Jahren meinen ersten festen Arbeitsvertrag. In Madrid, wo ich lebe, ist es in den Wohngebieten eine riesige Herausforderung, eine erschwingliche Mietwohnung mit mehr als zwei Zimmern zu finden. Vom Kauf einer Wohnung oder eines Hauses will ich gar nicht erst sprechen. Ich kann mir nicht vorstellen, ein Kind zu bekommen, ohne eine passende Unterkunft zu haben, in dem es auch aufwachsen kann – geschweige denn vier Kinder, wie meine Mutter.

Alicia Alamillos ist Journalistin mit Fokus auf internationale Nachrichten bei El Confidencial aus Madrid.

Verspätete helfende Hand

Die helfende Hand des Staats lässt in Nordmazedonien manchmal auf sich warten.

© Foto: Pixabay/José Manuel de Laá

„‚Machen Sie sich keine Sorgen. Das passiert manchmal… Der Papierkram, Sie wissen schon. Leihen Sie sich vielleicht etwas Geld, wenn Sie können.‘ Das wurde mir gesagt, als ich bei der staatlichen Gesundheitskasse nachfragte, warum meine Mutterschaftsbeihilfe nicht kam. Dies passierte im vergangenen Jahr, direkt nachdem ich mein zweites Kind zur Welt gebracht hatte. Das Geld kam letztendlich erst mit dreimonatiger Verspätung bei mir an. Als alleinerziehende Mutter mit einem Neugeborenen war eine solche Verzögerung sehr belastend. Ich musste mir Geld von meinen Eltern leihen. Ich kann nicht nachvollziehen, wie der Staat mich derart im Stich lassen konnte – zu einem Zeitpunkt, an dem ich am vulnerabelsten war.“

In Nordmazedonien wird der aktuelle Arbeitslohn einer Mutter während ihres Mutterschaftsurlaubs zu 100 Prozent aus einem staatlichen Fonds weitergezahlt. Die 43-jährige Lidija Stanchewska aus Skopje berichtete uns gegenüber jedoch, dass Mütter mitunter mittellos dastehen, bevor die „helfende Hand des Staates“ tatsächlich greift.

Im Land wird aktuell darüber diskutiert, ob der Mutterschaftsurlaub von bisher neun Monaten auf ein Jahr verlängert werden sollte. Doch was bringt eine solche Verlängerung, wenn die finanzielle Unterstützung zu spät kommt?

Siniša-Jakov Marusic ist Journalist in Skopje. Er schreibt für Balkan Insight, vor allem über Rechtsfragen in der Balkan-Region.

Frauen, Kinder, Propaganda

Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hält vor einer Vertrauensabstimmung über die neue Regierung eine Rede im Senat in Rom, 26. Oktober 2022.

© Foto: AP Photo/Andrew Medichini

Würden Sie sagen, dass das Leben einer Frau wertlos ist, wenn sie keine Kinder hat? In einem europäischen Land scheint eine solche Aussage unvorstellbar, aber genau das erleben wir gerade in Italien. Unter der neuen rechtsextremen Regierung von Giorgia Meloni geht die Idee, Familien zu unterstützen, Hand in Hand mit Propaganda. Daraus ergeben sich vor allem Probleme für Frauen.

Nichts fasst derartige Ansichten besser zusammen als ein Satz von Isabella Rauti, der Tochter des Gründers der faschistischen Partei Movimento Sociale, Pino Rauti. Im Mai sprach sie als familienpolitische Expertin auf einer Konferenz der Fratelli d‘Italia, Melonis Partei. Sie sagte dort: „Ohne Kinder, ohne diese Freude am Weitergeben des Lebens, gibt es keine Zukunft, gibt es gar nichts.“

Als Meloni an die Macht kam, kündigte sie die Schaffung eines Geburtenministeriums (Ministero della Natalità) an, dessen Ministerin Eugenia Roccella wurde. Diese hatte zuvor erklärt, Abtreibung sei „kein Recht“.

Diese Woche hat die Regierung bei der Vorstellung des Haushaltsentwurfs eine Reform des Rentensystems vorgeschlagen. Diese würde Frauen, die Kinder haben, einen früheren Renteneintritt ermöglichen: Je mehr Kinder eine Frau hat, desto früher kann sie in Rente gehen. Was aber, wenn sie keine Kinder haben kann oder will? Welche Rolle spielt der Partner?

Trotz der rechten Propaganda bleibt die nackte Wahrheit dieselbe: Frauen brauchen ein unterstützendes Sozialsystem und faire Löhne, sonst hat es wenig Sinn, über Familie – ob traditionell oder nicht – und Kinder zu reden.

Giorgia Meloni, die das „Frau- und Muttersein“ zu ihrem Markenzeichen gemacht hat, steht einer Partei vor, die in der EU gegen die Richtlinie zur Lohngleichheit gestimmt hat. In Italien ist ihre größte Obsession die Ablehnung des allgemeinen Bürgergeldes. Der angebliche Wunsch, Familien zu unterstützen, scheint dementsprechend „viel Lärm um nichts“ zu sein.

Was passiert, wenn sich derartige Propaganda in das Leben von Frauen einmischen will, hat sich bereits gezeigt: Nachdem die Fratelli d‘Italia die Kommunalwahlen in der Region Marken gewonnen hatten, wurde umgehend das Recht auf Abtreibung in Frage gestellt.

Francesca De Benedetti berichtet für die Zeitung Domani aus Rom über europäische Politik und Auslandsnachrichten.

Danke, dass Sie die neunte Ausgabe von European Focus gelesen haben!

Zwar haben Politikerinnen und Politiker in Europa die demografischen Probleme schon seit längerem erkannt, die Ursachen dafür können sie allerdings nach wie vor nicht hinreichend benennen. Die Stimme der Frauen in der Debatte über ihre Rechte wird immer stärker, aber immer noch nicht ausreichend gehört.

Die Frauenrechtsbewegungen wachsen und werden machtvoller. Es ist gut denkbar, dass sich diese Entwicklung mit der nächsten Generation fortsetzt und verstärkt. Ich würde es mir wünschen – nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer.

Wir freuen uns über Ihre Kommentare und Gedanken zu dieser Newsletter-Ausgabe.

Bis nächste Woche!

Michał Kokot

Der Newsletter European Focus wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich diejenigen der Autor:innen und spiegeln nicht notwendigerweise die der Europäischen Union oder von „Creative Europe“ wider. Weder die EU noch die ausstellende Behörde können für sie zur Verantwortung gezogen werden.

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