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Am Ende Realpolitik: Bild von der außerplanmäßigen EU-Videoschalte zur Krise in Belarus.

© Olivier Hoslet, AFP

Das viele Reden von Europas Werten: Es fehlt die „gesprochene Realpolitik“

Auch im Fall Belarus: Proklamiert werden Europas Werte immer gern, aber danach Handeln fällt der EU schwer. So werden die Worte hohl - und die Werte beschädigt. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Ariane Bemmer

Was schmerzt mehr: Von jemandem hart gefoult zu werden, der als Rüpel und Regelbrecher bekannt ist, oder hart gefoult zu werden von jemandem, der „I love Fairplay“ auf die Brust tätowiert hat und hinterher „eigentlich finde ich Fouls echt falsch, weißt du ja, tut mir total leid“ sagt?

Letzteres natürlich, weil da zum physischen Schmerz noch die Enttäuschung über den unerwarteten Verrat am dauerproklamierten Ideal kommt. Diese mentale Verletzung tut in der Regel länger weh als das demolierte Schienbein.

Dennoch leisten es sich westliche Demokratien, leistet es sich die Europäische Union, leistet es sich Deutschland immer wieder, so zu handeln wie der foulende Spieler mit dem Fairplay-Tattoo. Sie verraten auf der praktischen Ebene die Ideale, die sie auf der theoretischen so gerne betonen: die europäischen Werte. Jetzt erst wieder im Umgang mit Belarus.

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Wenn die Menschen in Minsk für ihre Freiheitsbestrebungen aus Russland keine Unterstützung erhalten, wird sie das nicht wundern. Aber dass die EU-Staats- und Regierungschefs am Mittwoch nur beschlossen, das offensichtlich gefälschte Wahlergebnis nicht anzuerkennen, dürfte enttäuschen. Das war höchstens das Mindeste, und spät kam es auch noch.

Aus Sicht der EU kann sich die Zurückhaltung interessengesteuerte Realpolitik nennen. Auch für die gibt es Gründe. Doch bleibt sie, das dürfte allen klar sein, der Essig im reinen Werte-Wein. Warum nimmt das Prahlen mit den Werten also nicht allmählich ab, warum wird die Tonart nicht etwas mehr den Umständen angepasst? Warum weiter wohlfeile Auftritte, am liebsten vor klatschendem Publikum?

Wieso ist Orbans Fidesz-Partei immer noch in der EVP?

Die Kluft zwischen Werteproklamation und den Werten gemäßem Handeln gibt es nicht nur bei internationalen Konflikten, auf die man oft in der Tat wenig Einfluss hat. Es gibt die auch in Europa, im eigenen Laden sozusagen.

Bis heute ist die Fidesz-Partei des antidemokratischen ungarischen Ministerpräsidenten Victor Orban aus dem konservativen EU-Parteienbund EVP lediglich suspendiert. Keine von Orbans vielen Werte-Verletzungen hat dazu geführt, ihn komplett aus der Fraktion zu werfen.

Schlimmer noch die Realpolitik der europäischen Sozialdemokraten, die treu zu ihren rumänischen Genossen halten, als ignorierte deren korrupte Regierungsarbeit in Bukarest nicht tagtäglich die europäischen Werte.

In der Sales-Branche gibt es das „Expectation Management“. Der umsichtige Umgang mit Erwartungen ist eine Basisqualifikation für gute Verkaufskräfte, und die hohe Kunst ist es, ein Produkt als so toll anzupreisen, dass es jeder haben will, aber dabei nicht so zu übertreiben, dass die gewonnene Kundschaft, wenn sie die bestellte Ware auspackt, als Erstes denkt: Oh, viel kleiner als im Prospekt.

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Das aber macht Deutschland, machen die Vertreter westlicher Demokratien gar zu gern. Sie übertreiben. Nicht die Werte selbst, die in der Tat fabelhaft sind. Aber sie übertreiben deren Stellenwert, sie übertreiben ihre Verbundenheit mit diesen Werten. Das führt zu Enttäuschungen. Bei jenen Millionen Menschen, die, wo immer auf der Welt, für Demokratie, Freiheit und Bürgerrechte aufgestanden sind und womöglich ihr Leben riskiert haben und dann vergeblich auf Unterstützung von den Werte-Beschwörern aus der EU warteten.

Und auch im Inland wachsen Verdruss und Irritation. Das Behaupten europäischer Werte wirkt bei deren fortgesetzter Hintanstellung in der Realpolitik nämlich im Wortsinn wertmindernd. Wie wichtig können Demokratie, Freiheit und Bürgerrechte schon sein, wenn die Politik sie bei so viele Gelegenheiten zugunsten realpolitischer Erfolge kleinschreibt? Nicht sehr, oder?

Eher entsteht noch leichter Überdruss schon an den zu oft gehörten hohlen Worten. Wie wäre es also mit verbaler Abrüstung, mit quasi gesprochener Realpolitik? Sonst könnte passieren, was jedem Verkäufer ein Alptraum ist: dass sich der Eindruck festsetzt, das Produkt, in diesem Fall die europäischen Werte, sei gar nicht so gut, wie immer getan wird.

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