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Ein Plakat „Warnstreik“ an einem Bus der Dresdner Verkehrsbetriebe (DVB) während des Warnstreiks im öffentlichen Nahverkehr im Betriebshof.

© dpa/Robert Michael

Streikwelle in Deutschland: Die Verhandlungsmacht hat sich zugunsten der Arbeitnehmer verschoben

Für die aktuellen Streiks gibt es verschiedene Gründe. Einschränkungen des Streikrechts wären unverhältnismäßig. Ohnehin ist die Neigung zum Arbeitskampf hierzulande eher schwach.

Ein Kommentar von Alfons Frese

Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erleben. Sofern er oder sie die Reise antreten kann. Kaum haben sich die Lokführergewerkschaft GDL und die Bahn auf ein Friedensabkommen verständigt, gab es einen bundesweiten Ausstand im Personennahverkehr und bei den Sicherheitskontrollen der Flughäfen.

Dann blieben die Piloten des Ferienfliegers Lufthansa Discover am Boden, und am Mittwoch wird das Bodenpersonal die Lufthansa an den größten Flughäfen blockieren. Ausgerechnet in der Rezession wird Deutschland zur Streikrepublik. Machen die Gewerkschaften den Standort kaputt?

Tarifautonomie und Koalitionsfreiheit kommen ins Gerede, Forderungen nach Einschränkungen des Streikrechts in Bereichen der Daseinsvorsorge, zu denen der Verkehr gehört, werden lauter. Das ist verständlich, weil bei manchen Streiks der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt scheint.

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Das gilt dann, wenn es Dritte betrifft und womöglich deren Grundrechte eingeschränkt werden. Ist es verhältnismäßig, wenn die Lokführergewerkschaft GDL für einen Tarifvertrag streikt, der nur 20.000 Beschäftigte bei der Bahn betrifft, aber Millionen Bahnreisende? Ja, lautet die Antwort des Arbeitsgerichts. Weil das Streikrecht ein hohes Gut ist.

Aus verschiedenen Gründen häufen sich derzeit die Streiks. Die Gewerkschaften machen Nachholbedarf geltend: In den Coronajahren stagnierten die Einkommen, und von 2021 bis 2023 drückte die Inflation die Realeinkommen ins Minus.

Der Arbeitskräftemangel spielt den Arbeitnehmern und ihren Organisationen in die Karten. Wer keine Angst hat um den Arbeitsplatz, traut sich zu streiken. Die Verhandlungsmacht hat sich zugunsten der Arbeitnehmer und Gewerkschaften verschoben.

Tarifbindung sinkt

Streiks sind Mittel zum Zwecke des Abschlusses eines Tarifvertrages. Doch die Tarifbindung sinkt, nur noch die Hälfte der Beschäftigten werden nach Tarif entlohnt.

Die Gewerkschaften sind zunehmend zum Häuserkampf gezwungen: Wenn ein Unternehmen keinen Branchentarif anwendet, versucht vor allem Verdi in einzelbetrieblichen Konflikten Haustarife durchzusetzen.

Ähnlich wie die Tarifbindung schrumpft seit Jahren auch die Mitgliederbasis der Gewerkschaften, die Arbeitskämpfe zunehmend nutzen zur Mitgliedermobilisierung und Mitgliederakquise. Verdi war damit in den Kitas und Krankenhäusern erfolgreich.

Schließlich befördert die Konkurrenz der Gewerkschaften die Konfliktbereitschaft. Bei der Bahn hat die Feindschaft der Eisenbahngewerkschaft EVG und der GDL zu einem Klassenkampf in derselben Klasse geführt.

Wechselseitig versuchen sich die Gewerkschaften Mitglieder abzujagen – vor allem mit hohen Tarifabschlüssen als Ergebnis erbitterter Arbeitskämpfe. Ohne Schlichtung waren die Tarifkonflikte zuletzt nicht mehr zu lösen, die Sozialpartnerschaft bei der Bahn ist kaputt.

Die Bahn ist ein Sonderfall. Alles in allem setzen die Gewerkschaften Streik als letztes Mittel mit Augenmaß ein. Auch bei der Lufthansa, wo drei Gewerkschaften unterwegs sind. Der Konzern hat sich erstaunlich schnell von Corona erholt, verdient Geld und sucht Tausende Arbeitskräfte.

Auch die Sicherheitsdienstleister an den Flughäfen brauchen Personal, was Verdi im aktuellen Konflikt nutzt. Parallel zum Markterfolg der Billigflieger waren viele Luftsicherheitsdienste privatisiert worden, die Beschäftigten bekamen Billiglöhne. Um das zu korrigieren, wird gestreikt.

Der seit zehn Monaten schwelende größte Tarifkonflikt geht derweil an der Bevölkerung vorbei. Für rund fünf Millionen Beschäftigte im Einzel- und Großhandel versucht Verdi bislang vergeblich Lohnforderungen durchzusetzen, weil die Streikbereitschaft der zumeist in Teilzeit arbeitenden Beschäftigten gering ist.

Überhaupt ist die Neigung zum Arbeitskampf hierzulande eher schwach ausgeprägt. In den Streikbilanzen der Böckler-Stiftung liegt die Bundesrepublik im unteren Mittelfeld. Am meisten gestreikt wird in Belgien, Kanada und Frankreich. Die Deutschen sind eben keine Franzosen.

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