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Vor seiner Wahl zum sächsischen Ministerpräsidenten war Stanislaw Tillich Landesfinanzminister im Kabinett von Georg Milbradt (beide CDU).

© dpa/Ralf Hirschberger

Sachsen: Wir von hier

Mit der Wahl von Stanislaw Tillich in Sachsen stehen erstmals nur Ostdeutsche an der Spitze der neuen Länder. Was bedeutet das für deren Selbstverständnis?

Ein Kommentar von Hermann Rudolph

Gelegentlich gibt es Ereignisse, deren Ereignis-Charakter dadurch belegt wird, dass sie gar nicht als solche wahrgenommen werden. Die gestrige Wahl von Stanislaw Tillich zum sächsischen Ministerpräsidenten ist ein solcher Fall. Denn seither stehen zum ersten Male ausschließlich ostdeutsche Politiker an der Spitze der neuen Länder. Es tritt ein, was im Westen eine eiserne Regel ist. Dass dort jemand ein Land regiert, der nicht aus ihm stammt, ist nach wie vor kaum vorstellbar. Der Schwabe Oettinger an der Spitze des Hamburger Senats? Der norddeutsche Peter Harry Carstensen in der Münchner Staatskanzlei? Doch wie selbstverständlich regierten die Nordrhein-Westfalen Georg Milbradt und Kurt Biedenkopf Sachsen. Und der zum Rheinland-Pfälzer gewordene Bayer Bernhard Vogel Thüringen.

Der Wechsel von dem glücklosen Georg Milbradt zu Tillich zeigt insofern den letzten Schritt einer Normalisierung an. Man kann darin sogar die Vollendung der ostdeutschen Revolution erkennen. Zu der gehörte es ja, dass aus der zusammenbrechenden DDR wie Phönix aus der Asche erst die Landesgefühle aufstiegen - erinnert sich noch jemand an die Fähnchen in den Landesfarben, die plötzlich überall auftauchten? -, dann die Länder. Vielleicht steht die Wahl auch für das Ende der fremdbestimmten, gewissermaßen kolonialistischen Phase der deutschen Vereinigung? So dass sie, mit einem Unterton von Genugtuung gesagt, bedeutete: Die ostdeutschen Länder sind nun Herr im eigenen Haus? Boshafte Lesart: Der Osten ist nun selber schuld.

König Kurt hatte Stabilität gebracht

Doch wie die Dinge liegen, steckt in dieser Wahl auch ein hoch aktueller politischer Zug. Sieht man von Stolpe in Brandenburg ab, so waren es - man kommt an der bitteren Erkenntnis nicht vorbei - vor allem die politikerfahrenen westdeutschen Importe, die den neuen Ländern politische Stabilität verschafften. Was Sachsen angeht, so war es König Kurt, dessen absolute Mehrheiten bayerischen Formats es dem Land möglich machten, zum ostdeutschen Vorzeige-Exempel zu werden. Inzwischen zeigen Wahlergebnisse und Umfragen, dass die politischen Verhältnisse im Osten auf der Kippe stehen. Die Linke durchweg bei dreißig Prozent, in Thüringen greift ihr Spitzenmann Ramelow offen nach dem Amt des Ministerpräsidenten - ironischerweise: wieder ein Westimport -, und die ostdeutschen Ministerpräsidenten stehen vor der schweren Aufgabe, die seit der Wende gewachsenen politischen Strukturen gegen ihre radikale Infragestellung zu verteidigen.

Die Wahl eines Landeskindes zum Ministerpräsidenten hat da auch eine politische Stoßrichtung. Mit ihr soll der Landespatriotismus für den Machterhalt mobilisiert werden. Tillich hat der sächsischen CDU auch sogleich die Krone der „Heimatpartei“ aufgesetzt. Tatsächlich sind das Regionale und Landsmannschaftliche, sind - um die einschlägigen Zauberworte zu benutzen - Identität und Zusammengehörigkeit wichtige Ressourcen der Politik. Und zwar angesichts erodierender Strukturen und schwindender parteipolitischer Unterschiede mit eher zunehmender Bedeutung - es ist nicht so lange her, dass ganze Wahlkämpfe auf Formeln wie „Wir in Baden-Württemberg“ oder „Wir in Nordrhein-Westfalen“ getrimmt wurden. Allerdings bleibt die Frage, ob der Appell an die Landesgefühle in der Lage ist, die Woge von Unzufriedenheit, Protest und Politikverdrossenheit zu brechen, die durch die neuen Länder rollt. Und ob Stanislaw Tillich die Kraft hat, dieses Potenzial zur Wirkung zu bringen.

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