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Was WISSEN schafft: Müll in der Milch

Melamin allein kann kaum die Ursache für Chinas Babysterben sein

Wen kümmert es angesichts der weltweiten Finanzkrise, wenn in China vier Kinder an Nierensteinen sterben? Der Skandal um mit Melamin verunreinigte Babymilch geht derzeit in der globalen Bankenpanik unter.

Währenddessen hat sich die Chemikalie klammheimlich um die Welt verbreitet. Nachdem über 54 000 Kinder durch verunreinigte chinesische Babynahrung erkrankten, wurden vergangene Woche Spuren von Melamin auch in chinesischer Milch des Weltmarktführers Nestlé gefunden. Der britische Süßwarengigant Cadbury musste elf in Peking produzierte Schokoladensorten zurückrufen, die unter anderem in Taiwan, Hongkong und Australien verkauft werden. Am Montag warnten indonesische Gesundheitsbehörden vor melaminhaltigen Schokobonbons („M&Ms“), Schokoriegeln („Snickers“) und Keksen; damit sind auch die chinesischen Fabriken der US-Konzerne Mars und Kraft von dem Skandal betroffen. Bislang beteuern die internationalen Hersteller, die Verunreinigungen seien höchstens in Spuren und nahezu ausschließlich bei in Asien verkauften Produkten nachweisbar.

In der EU ist man sich da nicht so sicher. Die europäische Lebensmittelbehörde EFSA (European Food Safety Authority) schätzt, dass mit chinesischem Milchpulver hergestellte Süßwaren die für Kleinkinder maximal zulässige Melamindosis um mehr als das Dreifache überschreiten könnten. In die EU importierte Kekse, Schokoladen und Fertigsuppen werden seit vergangener Woche auf Melamin untersucht. Auch mehrere Bundesländer haben Stichproben bei aus China importierten Lebensmitteln angekündigt. Ob und wie viel Melamin auch in deutschen Mägen gelandet ist, wird sich erst in einigen Wochen herausstellen.

Dass die hiesigen Aufsichtsbehörden versagt haben, steht allerdings schon heute fest: Obwohl schon lange bekannt war, dass in China regelmäßig mit Melamin und anderen gefährlichen Chemikalien gestreckt wird, gab es bisher keine systematischen Kontrollen. Im Frühjahr 2007 starben Tausende von Katzen und Hunden an Nierenversagen durch Tierfutter, das mit melaminverseuchten Rohstoffen aus China hergestellt worden war. Damals mussten in der EU und den USA Hunderte von Tiernahrungsprodukten zurückgerufen werden. Auch für den menschlichen Verzehr gedachte Hühner waren mit illegalen Melamincocktails „made in China“ gefüttert worden. Einige tausend Fälle von Nierenversagen bei Katzen und Hunden im Jahr 2004 werden ebenfalls melaminverseuchtem Futter zugeschrieben.

Melamin ist eine chemische Verbindung, die vor allem für die Herstellung von Lacken, Kunst- und Klebstoffen verwendet wird. Wegen seines hohen Stickstoffanteils wird es in China illegal gestreckten Nahrungsmitteln (etwa mit Spreu versetzten Getreideprodukten oder mit Wasser verdünnter Milch) zugefügt, um einen hohen Eiweißgehalt vorzutäuschen. Der Trick funktioniert, weil Eiweiß – das ebenfalls sehr viel Stickstoff enthält – im Agrarbereich üblicherweise indirekt durch Messung des Stickstoffgehalts bestimmt wird, mit der aus dem Jahr 1883 stammenden „Kjeldahl-Probe“. Modernere Verfahren, die zwischen Melamin und echtem Eiweiß unterscheiden können, sind aus Kostengründen kaum verbreitet.

Warum in China so viele Kinder erkrankten, ist keineswegs geklärt. Melamin ist nämlich, entgegen anderslautenden Meldungen, so ungiftig wie Kochsalz und führt alleine auch nicht zu Nierensteinen. Das legt einen bösen Verdacht nahe: Das chinesische Milchpulver ist wahrscheinlich mit weiteren Chemikalien verunreinigt. Beim Tierfutterskandal von 2007 entstanden die Nierensteine durch eine Kombination von Melamin und Cyanursäure, die zusätzlich ins Futter gelangt war. Cyanursäure entsteht unter anderem als Abfallprodukt bei der Herstellung von Melamin. Möglicherweise wurde die Milch also nicht einmal mit reinem Melamin, sondern mit billigen Abfällen aus der chemischen Industrie versetzt.

Die Geschichte von den kranken chinesischen Kindern lehrt, dass Profitgier auch nicht vor unvorstellbar Unappetitlichem haltmacht. Deshalb können im Zeitalter der Globalisierung nationale Kontrollen gar nicht streng genug sein. Bei Babymilch ist das eben genauso wie bei den Banken.

Der Autor ist Institutsdirektor und Professor für Medizinische Mikrobiologie in Halle. Foto: J. Peyer

Alexander S. Kekulé

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