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Mon BERLIN: Pizza für alle

In diesen letzten Tagen des Jahres zieht man Bilanz. Ein schwieriger Übergang für die nicht ganz so Tüchtigen, die sympathischen Loser, die eher Faulen, die Lebenskünstler ohne große Ambitionen.

In diesen letzten Tagen des Jahres zieht man Bilanz. Ein schwieriger Übergang für die nicht ganz so Tüchtigen, die sympathischen Loser, die eher Faulen, die Lebenskünstler ohne große Ambitionen. Nur allzu gern bemessen und beurteilen sich unsere Leistungen nach unseren vollgestopften Briefkästen und Mailboxen. Manche von uns sind Vodafone-Stars mit Silber-, Gold-, ja sogar Platin-Status. Andere sind erhabene Vielreisende bei der Deutschen Bahn oder präsentieren stolz ihre Miles-&-More-Karte bei der Lufthansa. Douglas und KaDeWe rollen ihnen den roten Teppich aus, und ihre Bank schickt ihnen die besten Wünsche und gratuliert ihnen auch noch dazu, dass sie ihr die Ersparnisse für einen erbärmlichen Zinssatz anvertraut haben. Selbst Sixt wünscht in diesem Jahr „Zeit, Ruhe und Besinnlichkeit“ und dankt seinen Kunden für „Ihr Vertrauen in unsere Mobilitätslösungen“. Wenn Sie heute Vormittag auf den Berliner Straßen spazieren gehen, werden Sie all diese Konsumenten sehen – dekoriert wie Generäle, die vom Schlachtfeld zurückkehren.

Und ich, was für eine Medaille kann ich am Ende dieses Jahres an mein Revers heften? Was habe ich diese Woche in meinem Briefkasten gefunden? Einen Gutschein von „Hallo Pizza“, ein kleiner Dank an eine besonders treue Kundenfamilie. Das Blut stockte mir in den Adern, die Schande ließ mich erröten, meine Knie wankten, glücklicherweise hängt mein Briefkasten in einer dunklen Ecke, gleich hinter den Stufen. Verstohlen stopfte ich den Zettel in die Tasche. Hastig stürzte ich die Treppen hoch und schloss mich in der Küche ein, um diese jedenfalls einzigartige Auszeichnung eingehend zu studieren. Womit war ich dermaßen in Ungnade gefallen? „Frohe Kunde: Das Festmahl ist angerichtet!“ Mir kam es vor, als würden die Fotos der vier Pizzen mich auslachen.

Die übrigen Geehrten dürfen sich alle einer besonderen Leistung rühmen: beschäftigt und wichtig bei Vodafone, vernetzt und aktiv bei der Bahn, Abenteurer und Kosmopolit bei Lufthansa, hübsch und gepflegt bei Douglas, chic und exklusiv beim KaDeWe. Na, prima! Man darf sich dazu gratulieren, dass man zum inneren Zirkel der Macher, der Aktiven, der Leistungsträger, der Reichen und Schönen gehört.

Und während alle anderen sich mit stolzgeschwellter Brust und erhobenem Haupt fortbewegen, beuge ich den Rücken und senke schamerfüllt den Blick. Treue Kundin bei „Hallo Pizza“, das heißt im Klartext doch: Sie kann nicht kochen. Sie ist von früh bis spät im Stress und ernährt ihre Familie mit Fastfood. Und dabei ist sie Französin! Eine Landsmännin von Gault & Millau, die kleine Schwester von Paul Bocuse! Sie ist mit Sauce Béchamel, Foie gras und Boeuf Bourguignon aufgewachsen! Und was ist aus ihr geworden? Eine treue Kundin, die sich auf dem Sofa vor dem Fernseher lümmelt und unter ihren fettigen Pizzakartons fast zusammenbricht! Wie kann man nur so tief sinken! An Heiligabend gibt es bei ihr bestimmt Santa Schmaus mit Ente, Broccoli und Mandeln – statt Truthahn mit Maronen und Knödeln, hausgemachten selbstverständlich!

Ich musste unbedingt herausfinden, wie ich zu dieser Demütigung gekommen war. Zunächst glaubte ich an einen Irrtum. Sicher hat der Postbote die Briefkästen verwechselt. Im Halbdunkel konnte er die Namen nicht richtig lesen und hat mich für einen Nachbarn gehalten. Tagelang habe ich mir den Kopf zerbrochen. Mit einer Lupe habe ich die Kreditkartenabrechnungen entziffert. Ich glaubte, den Verstand zu verlieren. Bis ich eines Abends spät nach Haus kam und plötzlich einen Hinweis fand. Vier kleine Fettflecken im Gänsemarsch auf dem Küchenboden. Auf Händen und Füßen folgte ich der Spur, die mich bis unter die Anrichte führte. Und da entdeckte ich eine fettige leere Schachtel, von einem schuldigen Fußtritt rasch unter den Schrank befördert. In meiner Abwesenheit war eine dekadente Orgie gefeiert worden! Ein verbotenes Festmahl! Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, stellte die Kochbücher wieder an den Platz, band die Schürze ab und griff zum Telefon. Pizza für alle. Die Küche bleibt heute geschlossen!

Bonne année!

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke. Von Pascale Hugues ist gerade erschienen: „Ruhige Straße in guter Wohnlage. Die Geschichte meiner Nachbarn“ (Rowohlt).

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