zum Hauptinhalt

Meinung: Meine kurze Geschichte der neuen Zeit

„Alle reden über den Klimawandel, nicht den Lebenswandel“

Es ist eine simple kleine Begebenheit. Aber sie führt ins Herz unserer Zivilisation.

Kürzlich kam ich an eine Tankstelle am Rande einer alten, romantischen deutschen Universitätsstadt – so weit am Rande, dass Stadt und Dorf bereits in Land und Landwirtschaft übergingen. Ich bezahlte meinen Sprit wie üblich mit der Kreditkarte, dann wollte ich noch eine Flasche Wasser und eine Zeitung. Das machte 4,60 Euro, und ich gab der jungen Kassiererin einen Fünfer und zehn Cent. Sie nahm die Banknote mit der Hand, aber gleichzeitig fuhr auf Knopfdruck ein metallenes Schubfach aus der Ladenkasse: „Bitte legen Sie hier Ihre Münze rein.“ Darauf fuhr das Fach zurück und wieder vor, darin lagen meine 50 Cent Wechselgeld.

Ich dachte, ich träume. Solch eine Kasse und eine Kassiererin, die eine nur für die Münzen, die andere für die Scheine, so etwas hatte ich noch nicht in New York, Schanghai oder Tokio gesehen. Nur in der deutschen Provinztankstelle. Und der absurde Vorgang dauerte fast doppelt so lange wie ein Geldwechsel aus der üblichen Kasse von Hand zu Hand.

Werden wir nun alle verrückt?

Das ist ja die Frage. Vor Jahren war ich mal im Urlaub in Lissabon, just am Tag, als der Chiado, die schöne Altstadt brannte. Eigentlich betraf es nur vier Häuser aus dem 19. Jahrhundert, aber der Weg zum berühmten Café „A Brasileira“ mit dem an seinem Tisch in Erz gegossenen Dichter Fernando Pessoa war blockiert. In anderen Teilen der Stadt ging das Leben weiter, in den Geschäften brannten plötzlich Wind- und Teelichter, weil wegen Explosionsgefahr der Strom gesperrt war. Allerdings konnte man in den geöffneten Geschäften nichts kaufen. Die elektrischen Ladenkassen gingen nun nicht.

Es bedarf nicht erst eines Jahrhundert-Blackouts wie einst in Manhattan und heute bei jeder mittleren Naturkatastrophe, um uns durch Kälte, Hitze, Dunkelheit, ausgefallene Computer, stehende Lifte, Züge undsoweiter zu erinnern, dass wir vom Strom in totaler Abhängigkeit leben.

Aber das Irre ist dann doch, dass (fast) alle über die Energiewende, übers Energiesparen, über den Klimawandel (undsoweiter) reden. Doch kaum über unseren täglichen Lebenswandel. Der aus immer weiter zunehmender Elektrifizierung aller möglicher und unmöglicher Daseinsbereiche besteht. Von der Zahnbürste geht das bis zum voll digitalisierten, sprich weiter elektrifizierten Smart-Haus(halt), bei dem Energie, auch die menschliche, durch immer mehr neue, andere Energie ersetzt wird. Und man glaube doch nicht, dass jeder dazu gleich sein eigenes, Ressourcen schonendes Heimkraftwerk aus Sonne, Wind oder Fantasie besitzt.

Im Moment diskutieren wir (fast) alle über die Sicherheit im Netz. Und wollen oder kriegen gleichzeitig immer mehr Netz. Auch auf und in der eigenen Haut. In Kalifornien wurde gerade eine Autofahrerin von der Polizei gestoppt, die eine Brille trug. Eine smarte Google-Brille mit eingebautem Minicomputer zum Internetsurfen und Minikamera. Diese Brille beunruhigt auch schon andere Verkehrsschützer, so wird sie angeblich in Pornokinos und Nachtklubs verboten. Aber auch das ist banal.

In Zukunft braucht man ja keine Brille oder Smartphones mehr, irgendwann reicht ein implantierter Chip, ein Nanocomputer im Hirn oder Körper, um zu surfen, zu spielen, digital zu imaginieren. Um andere damit zu dirigieren oder selbst von anderen bestimmt zu werden. Nicht ich denke, es denkt, also bin ich.

Die EU verordnet Sparglühbirnen für Zeitgenossen, die über Drohneneinsätze im zivilen Paketverkehr nachdenken. Wobei die Birne damit nichts direkt zu tun hat. Oder irgendwie doch. Es geht halt um Industrie-Interessen.

Wer so was sagt, gilt schnell als fortschrittsfeindlich. Als hätte man generell etwas gegen die Erfindung des elektrischen Lichts, gegen Computer, das Internet oder die Innovationen Leben rettender Medizin. Aber selbst Kritiker des unendlichen Wachstums angesichts eines endlichen Planeten kümmern sich selten um die Kosten der in der digitalen Ära längst selbstläuferisch anwachsenden zweiten Elektrifizierung der Menschheit. „Während wir schliefen, haben die Maschinen die Welt übernommen, genau wie die alten Science-Fiction-Filme voraussagten“, hat der Schriftsteller T.C. Boyle gerade als Unterzeichner des Manifests der Nobelpreisträger und Autoren gegen die Ausspähung im Netz gesagt. Und ja: Das Schönste, was einst jener Lissabonner Dichter Pessoa geschrieben hat, ist „Das Buch der Unruhe“.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false