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Ich habe verstanden!: Über den Sinn von Leserbriefen

Mit zunehmendem Alter sollte man sich weniger aufregen, aber ist das eine Hoffnung oder wird es so kommen? Leserbriefe zum Beispiel.

Ich habe noch nie einen Leserbrief geschrieben, was vielleicht auch daran liegt, dass ich seit Jahren Leserbriefe bekomme und die meisten, wenn sie nicht beleidigend sind, auch beantworte. Gehört zum Job dazu. Ich stehe also quasi auf der anderen Seite. Ich habe ein großes Verständnis für jeden, der Leserbriefe schreibt.

Leserbriefschreiber sind in der Regel ein bisschen älter. Die meisten Menschen schreiben Leserbriefe, wenn ihnen etwas nicht gefällt. Wenn einem etwas gefällt, dann behält man es für sich, wahrscheinlich weil man es für eine Selbstverständlichkeit hält, dass die Dinge, die man sich durchliest und anschaut, gut gemacht sind. Muss man keine Worte drüber verlieren. Hält man sie für schlecht gemacht, müssen manche das auch artikulieren. Im besten Fall entsteht so ein Dialog mit den Lesern. Ich habe noch nie erlebt, dass dieser Dialog unangenehm ist – im Gegenteil. Dialoge mit Lesern sind meistens geprägt von Respekt und Verständnis.

Am Montag habe ich mich furchtbar aufgeregt, ich bin also doch noch jung. Im „Spiegel“ stand ein Text darüber, das Forscher typische Merkmale von Amokläufern entdeckt hätten. „Das könnte helfen, Taten zu verhindern“, heißt es in der Unterzeile zu der Geschichte. Und in der geht es um Britta Bannenberg, die „sechs Jahre Aktenstudium“ hinter sich habe. Daraus hat sie sieben Merkmale analysiert, die angeblich dabei helfen könnten, Amokläufe zu verhindern. Merkmale, die bei Jugendlichen auftreten, die sie offenbar anfälliger machen sollen für Amokläufe. Sieben Merkmale werden im „Spiegel“ aufgelistet, und zwar: ein gefühlsarmes Elternhaus, Hass in Computerspielen, fehlende Anerkennung, Leidenschaft für Waffen, Suizid- und Gewaltgedanken, Persönlichkeitsstörungen, das Tragen der Farbe Schwarz.

Wenn man sich diese sogenannten Merkmale anschaut, dann könnten das auch die sieben Merkmale einer ganz normalen männlichen Teenager-Pubertät sein – sind demnach alle Jungs zwischen 13 und 16 potenzielle Amokläufer? Sollten Mitschüler sicherheitshalber die Polizei rufen, wenn sie einen Klassenkameraden im schwarzen T-Shirt und mit schwarzer Jeans sehen, der sich gerne durch Computerspiele ballert und im Sportunterricht als letzter in die Mannschaft gewählt wird? Oder müssen alle sieben Merkmale vorhanden sein? Reichen vier nicht auch?

Hinter dieser Studie steckt bestimmt die beste Absicht, nämlich das Verhindernwollen von möglichen Amokläufen – aber das Problem dieser Studie ist doch, dass sie so tut, als könne man Amokläufe erklären, als würde dahinter eine Formel stecken, etwas, das man im Griff haben könnte. Es ist der Versuch, das Unerklärliche zu erklären.

Vor vier Jahren erschien das Buch „Ich bin voller Hass – und das lieb ich“. Es ist ein „dokumentarischer Roman“, zusammengestellt vom dem Journalisten Joachim Gaertner aus den Originaldokumenten zum Attentat an der Columbine Highschool im Jahre 1999. Es ist ein wahrhaftes gewaltiges Buch – gerade weil es keine Erklärung liefert, weil es keine Erklärung gibt. Am Ende des Buches, nach dem man die Gedichte, Tagebücher, Protokolle gelesen hat, ist man ratlos, man fragt sich – zumindest als Mann – welches kleine Wunder man als Junge erfahren hat, das einen nicht diese unglaubliche Wut hat ausleben lassen, denn es gibt in diesem Buch Texte der beiden Attentäter, die von so einer verletzlichen Wut herrühren, von einem Unverstandensein, von Einsamkeit und Sehnsucht nach Liebe, wie sie von jedem 16-Jährigen stammen könnten. Und das ist das Erschütternde, die schmerzhafte Wahrheit. Die Amokläufer von Columbine waren keine Monster, und kurz vor der Tat schrieben sie: „Es gibt nichts, was ihr hättet tun können.“

Das ist kein Leserbrief an den „Spiegel“, sondern eine wöchentliche Kolumne, die sich oft bemüht, amüsant zu sein, die aber diesmal, nach dem nochmaligen Lesen des Buches von Joachim Gaertner, so ratlos enden muss, wie sie begonnen hat.

Kalle ist Vize-Chefredakteur des ZEITMagazins

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